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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines großen Krachers oder: Als Werbung noch knallte

Beim »Crash at Crush« gehen Industrialisierung, Technikbegeisterung und Marketing eine innige Verbindung ein. Genau wie die zwei Loks, die mit Volldampf aufeinander zurasen.
Der Aufprall steht kurz bevor

Unsere Geschichte beginnt in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Dort profitiert die Missouri, Kansas and Texas Railroad Company, kurz MKT oder auch Katy Line, so wie viele andere Bahngesellschaften, seit Jahren vom massiven Ausbau des Schienenverkehrs in den USA.

Vor allem nachdem die Pacific Railroad Acts von 1862 den Bau einer Eisenbahn quer durch Nordamerika autorisiert haben, werden in den USA hunderttausende Kilometer Gleise verlegt. Es dauert nur sieben Jahre, bis 1869 die erste dieser transkontinentalen Eisenbahnlinien fertig gestellt ist. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sollen noch vier weitere folgen.

Das Bahnwesen blüht. Aber die rasante Zunahme des Schienenverkehrs hat auch eine Schattenseite: Zugunglücke.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

So sterben zum Beispiel im Jahr 1864 beim Shohola Train Wreck in Pennsylvania etwa 72 Menschen. Ausgelöst wurde das Unglück durch zwei Lokomotiven, die zusammenstießen, ein Umstand, der oftmals durch falsch synchronisierte Uhren hervorgerufen wurde.

Trotz der häufig hohen Opferzahl üben diese Unfälle auf die Menschen eine große Faszination aus. Zwei von Dampf angetriebene Ungetüme, die mit einer Riesenwucht aufeinandertrafen. Ein Spektakel der Sonderklasse!

Ausrangierte Lokomotiven lassen einen Plan entstehen

Hier kommt nun ein gewisser William George Crush ins Spiel: Eigentlich zuständig für Passagierangelegenheiten bei der Katy Line, kommt ihm im Jahr 1895 eine außergewöhnliche Idee. Könnte man die Lust der Menschen an diesen Spektakeln nicht dafür nutzen, um ordentlich Werbung für die eigene Firma zu machen?

Schon in aller Frühe treffen voll besetzte Sonderzüge mit Neugierigen ein

Da die Katy Line im Laufe der 1890er Jahre ihre 30-Tonnen-Lokomotiven durch die leistungsstärkeren 60-Tonnen-Maschinen ersetzt hatte, stehen nun rund 50 obsolet gewordene Lokomotiven zur Verfügung. Einige davon sind für Arbeiten in Steinbrüchen oder in der Holzverarbeitung verkauft worden, doch nicht alle haben Abnehmer gefunden. Ideale Voraussetzungen für den Plan, der in Crushs Kopf langsam Formen annimmt!

Schließlich schlägt er seinen Arbeitgebern Folgendes vor: An einem noch näher zu bestimmenden Ort, auf speziell dafür gelegten Gleisen, sollen zwei dieser eisernen Ungetüme ineinanderrasen. Und zwar vor Publikum. Der Besuch des Events solle komplett kostenlos sein. Nur für die Anreise per Sonderzug müssten die Besucherinnen und Besucher selbst aufkommen.

Seine Vorgesetzten sind von der Idee begeistert, und Crush macht sich daran, einen geeigneten Ort zu finden, denn nicht überall ist es ratsam, zwei Lokomotiven zusammenstoßen zu lassen. Er findet schließlich ein kleines Tal im Norden des texanischen Städtchens Waco. Nachdem der Ort noch nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossen ist, machen sich im September 1896 mehr als 500 Arbeiter daran, das kleine Tal mit der Linie Waco-Dallas zu verbinden.

Für Ehrengäste, Redner und eine eigene Band baut man Tribünen auf. Gleich zwei Telegrafenbüros sollen es den erwarteten Reportern ermöglichen, ihre Berichte in die Zeitungsredaktionen zu senden. Ein Zirkuszelt beherbergt ein eigenes Restaurant, denn die Massen wollen verpflegt werden; Schießbuden und Tinkturenverkäufer sollen die Menschen bis zur eigentlichen Attraktion bei Laune halten. Zu guter Letzt wird noch ein Bahnhof mit einem 650 Meter langen Bahnsteig gebaut, und der Ort erhält seinen Namen: Crush, Texas.

Die Massen kommen

Obwohl George Crush einen Besucheransturm erwartet – er rechnet mit bis zu 20 000 Personen –, zeichnet sich am Tag des Geschehens bald ab, dass er sich gründlich verschätzt hat.

Der Moment des Aufpralls | Die Wucht, mit der die beiden 30-Tonner aufeinanderprallen, schockiert die Zuschauer.

Schon am Morgen des 15. September 1896 treffen drei bis zum letzten Platz besetzte Züge ein. Und als der frühe Nachmittag beginnt, befinden sich bereits mehr als 40 000 Menschen im Areal. Das Gelände ist übersät mit Besucherinnen und Besuchern. Man macht es sich im Gras gemütlich. Und wartet bei Picknicks auf den Beginn der eigentlichen Sensation.

Die ist für 17 Uhr angekündigt. Bis dahin kann das Publikum beobachten, wie die beiden Stars der Show – Lokomotive No. 999 und Lokomotive No. 1001 – für einen Fototermin zu genau jenem Punkt gezogen werden, an dem der Zusammenstoß geplant ist.

Danach werden sie ans jeweils andere Ende der eigens dafür gelegten, vier Meilen (oder knapp sechseinhalb Kilometer) langen Gleise gezogen und samt Wagons bereit gemacht. Die Anspannung wächst. Um ja nichts zu verpassen, drängen die Menschen in den vorgegebenen Sicherheitsbereich. Es kostet Zeit und Mühe, sie auf Distanz zu den Gleisen zu halten.

Doch schließlich ist es so weit. Crush, der seine Rolle als Zeremonienmeister sichtlich genießt, reitet nun auf einem weißen Pferd an die Gleise heran, nimmt seinen Hut ab, streckt ihn in die Höhe und reißt ihn nach unten. Es geht los!

Zunächst noch ganz langsam setzen sich die Loks in Bewegung, machen sich auf ihre kurze Reise zum Mittelpunkt des Gleises. Jetzt springen die beiden Lokomotivführer aus dem Fahrerhäuschen. Die Maschinen werden schneller und schneller. Bald heizen sie mit über 70 Kilometern pro Stunde aufeinander zu.

Fast exakt an der dafür prognostizierten Stelle krachen sie ineinander. Die Wucht des Aufpralls ist so groß, dass beide Lokomotiven in die Höhe geschoben werden und sich ineinander verkeilen. Und als wäre das nicht genug, passiert nun etwas, was eigentlich nicht hätte passieren sollen.

Entgegen den Versicherungen der an der Planung beteiligten Ingenieure und Mechaniker bersten die mächtigen Kessel der Lokomotiven. Die daraus resultierende Explosion schleudert Tonnen an Metallstücken in die Luft.

Die Menschenmenge, überrascht und schockiert von der schieren Gewalt der Explosion, versucht sich in Sicherheit zu bringen, was aber nicht allen gelingt. Eine Frau und zwei junge Männer werden von herabstürzenden Metallteilen erschlagen, mindestens sechs weitere Zuschauer werden verletzt. Einer der offiziellen Fotografen verliert ein Auge.

Der Schockmoment hält allerdings nur kurz an. Nachdem die Toten geborgen, die Verletzten versorgt und die zerborstenen Lokomotiven davongekarrt worden sind, drängen die Menschen auf die Gleise, um sich Souvenirs des Spektakels zu sichern.

Bald darauf besteigen sie wieder die Züge. Die Buden und Tribünen werden abgebaut. Und am Ende des Tages hat Crush, Texas aufgehört zu existieren.

Crush wird gefeuert – und gleich wieder eingestellt

Es wäre nun anzunehmen, dass ein Spektakel, das so gründlich nach hinten losging, ernsthafte Folgen für Crush und seinen Arbeitgeber haben würde. Doch das Gegenteil tritt ein.

Crush wird zwar noch am selben Tag gefeuert, doch am nächsten Tag wieder eingestellt. Die befürchtete schlechte Presse bleibt aus, stattdessen wird das Zugunglück von Crush landesweit gefeiert. Schadensersatzforderungen begleicht Crushs Arbeitgeber schnell mit Bargeld oder lebenslangen Zugtickets.

Wie die darauf folgenden Jahre zeigen sollten, ging Crushs Marketing-Idee auf, denn die Katy Line erfreute sich im Fahrwasser des »Crashs at Crush« höchster Beliebtheit. So sehr, dass sich einige andere Bahngesellschaften die Idee abschauten und weitere Zugunglücke organisierten. Glücklicherweise aber nie wieder mit Todesfällen.

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