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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Mannes, der mit Tauben Raketen steuern wollte

Im Zweiten Weltkrieg suchten die USA fieberhaft nach einem effektiven Luftabwehrsystem. Daraufhin schlugen manche Forschende technische Lösungen vor, andere eher tierische, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Psychologe B. F. Skinner (1904–1990) verfrachtet eine Versuchstaube in eine Skinner-Box, eine reizarme experimentelle Umgebung.

Die Kybernetik, die Wissenschaft über die Steuerung von Maschinen, gehört zu den folgenreichsten Ideen des 20. Jahrhunderts. Und das nicht etwa deshalb, weil davon das Wort »Cyber« abgeleitet wurde, das inzwischen für allerlei Wortschöpfungen herhalten muss. Vielmehr prägt die Kybernetik bis heute unser Verständnis von Technik und Maschinen. Allerdings gab es anfangs verschiedene, ja geradezu skurrile Lösungen. Von technisch bis tierisch.

Seinen Ursprung hat die Kybernetik im Zweiten Weltkrieg. Die Alliierten suchten nach einem Weg, ihre Flugabwehr gegen deutsche Luftangriffe zu verbessern. Zwar ließ sich die Flugbahn von Geschossen ballistisch berechnen; aber auf diese Weise auch die genaue Position des Ziels vorherzusagen, war extrem schwierig. Noch dazu, wenn das Zielobjekt ein Flugzeug war, das sich bewegte und dessen Höhe und Geschwindigkeit jederzeit variieren konnte.

In den USA gründete die Regierung von Präsident Franklin D. Roosevelt deshalb 1940 das National Defense Research Committee (Nationales Komitee für Verteidigungsforschung), aus dem wenig später das Office of Scientific Research and Development (Amt für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, kurz: OSRD) hervorging. Die staatliche Organisation finanzierte Forschungen für militärische Problemfälle. Und eine Abteilung widmete sich dem Problem der unpräzisen Luftabwehr. Bis 1945 förderte sie dazu 80 Projekte. Eines davon stammte vom Mathematiker Norbert Wiener (1894–1964), der ein vierseitiges Exposé eingereicht hatte. In der Nachkriegszeit sollte es die Wissenschaft der Kybernetik begründen, wie etwa der Politikwissenschaftler Thomas Rid in seiner »Kurzen Geschichte der Kybernetik« schreibt. Es gab aber noch einen anderen ebenfalls ernst zu nehmenden Vorschlag.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Vor der echten Kybernetik gab es noch die Idee mit den Tauben

Zeitgleich arbeitete ein weiterer weltberühmter Wissenschaftler an einem ähnlichen Problem: Der Psychologe Burrhus Frederic Skinner, kurz B. F. Skinner (1904–1990), befasste sich mit der Steuerung von Raketen. Allerdings entwickelte er keine computergestützte oder mechanische Steuerungstechnik im strengen Sinn der Kybernetik, sondern ein eher protokybernetisches System – und Tauben spielten dabei eine große Rolle.

B. F. Skinner gilt als Begründer des »radical behaviorism«, zu Deutsch radikaler Behaviorismus. Er interessierte sich für das beobachtbare Verhalten eines Lebewesen und die sichtbaren äußeren Einflüsse, denen es ausgesetzt ist. Dessen innere Zustände oder Seelenleben waren für seine Forschung unwichtig – beides ließ er gänzlich außen vor.

Seinen Lösungsvorschlag für die Raketensteuerung verband er mit einer seiner wichtigsten Forschungsmethoden: dem operanten Konditionieren. Mit Hilfe der Skinner-Box, eines speziellen Experimentaufbaus für Versuchstiere, konnte er zeigen, dass sich operantes, also spontanes, durch nichts bedingtes Verhalten verstärken ließ. Die Idee dahinter: Ein Verhalten, das belohnt oder positiv erwidert wird, führt zu einer positiven Verstärkung beim Versuchstier. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Tier erneut so verhalten würde.

Tauben für den Kriegseinsatz

Für Skinner war demnach das Verhalten von Lebewesen vorhersagbar und kontrollierbar. Diese Erkenntnis wollte er nun für die Raketensteuerung nutzen. Wie wäre es, schlug er vor, wenn konditionierte Tauben in der Rakete säßen und die Richtung vorgäben? Denn die Geschosse müssen auf ihrer Flugbahn ständig stabilisiert und der Kurs immer wieder justiert werden. Etwas, was nach Skinners Ansicht Tauben übernehmen könnten. Allein technisch ließ sich eine Steuerung Anfang der 1940er Jahre nämlich noch nicht umsetzen.

Nazi-Deutschland setzte im Zweiten Weltkrieg ab 1944 die Rakete Aggregat 4 ein, besser bekannt als V2. Sie war mit einem sehr modernen Steuerungssystem ausgestattet, welches das Flugobjekt selbst auf Kurs halten konnte. Sie gilt daher als eine der ersten Lenkflugkörper. Das OSRD in den USA suchte angesichts dessen fieberhaft nach einer Lösung für die eigene schwache Luftabwehr.

Skinner nannte seinen Vorschlag »Project Pigeon« – Projekt Taube, das er später in »Project Orcon« umwidmete; den Namen leitete er von dem Begriff »Organic Control« ab. Die Idee dahinter war, dass bis zu drei Tauben in der Kapsel an der Raketenspitze untergebracht sind. Vor jeder Taube befindet sich ein mit Sensoren ausgestatteter Bildschirm, auf den das Ziel projiziert wird. Die Vögel waren darauf konditioniert, auf das Ziel am Monitor zu picken und so die Rakete zu steuern. Falls sie vom Kurs abwich, bewegte sich das Ziel aus der Mitte des Bildschirms, die Tauben folgten dem Ziel, und so erkannten die Sensoren die Abweichungen und konnten gegebenenfalls den Kurs der Rakete korrigieren.

Das OSRD förderte neben Norbert Wiener auch Skinner, der für seinen Forschungen 25 000 US-Dollar erhielt. Allerdings wurde das Projekt im Oktober 1944 eingestellt, weil das OSRD davon überzeugt war, dass eine technische Lösung deutlich besser geeignet wäre als Raketen steuernde Tauben. Trotzdem wurde Skinners Idee nicht völlig verworfen. 1948 beschäftigte sich die US-Marine noch einmal damit, diesmal unter dem Namen »Project Orcon«. 1953 dann gab das Militär den Plan mit den Tauben endgültig auf.

Skinners Idee wurde nie im Kampfeinsatz erprobt oder eingesetzt. Dafür prägten seinen anderen Arbeiten die Wissenschaft und psychologische Praxis umso mehr – so beruht die Verhaltenstherapie auf seinen Forschungen.

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