Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines unwiderstehlichen Dufts aus dem Reagenzglas

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Wilhelm Kubel, angehender Apotheker, experimentierte in seinem Labor. Es war das Jahr 1865, und Kubel untersuchte eine Flüssigkeit, die er aus der jungen Rinde von Lärchen gewonnen hatte, sogenannten Kambialsaft. Nachdem er den Saft mit Schwefelsäure versetzt und anschließend aufgekocht hatte, bildete sich daraus ein harzartiger Klumpen: Coniferin. Zugleich, so berichtete der Experimentator, verströmte der Stoff einen höchst angenehmen Geruch – von Vanille. Wie und warum sich der Duft gebildet hatte, verfolgte Kubel aber nicht weiter.
Von seinem Coniferin verschenkte er einen Teil an einen anderen Chemiker, der gerade in Berlin auf der Suche nach einem Forschungsthema war: Wilhelm Haarmann (1847–1931). Dieser setzte die Experimente nicht nur fort, sondern lüftete auch das Geheimnis des Vanillegeruchs. Was Haarmann wohl nicht ahnte: Er begründete damit das Zeitalter der synthetischen Düfte und schuf einen neuen Industriezweig, wie der Chemiker Björn Kuhse in seinem Buch »Wilhelm Haarmann auf den Spuren der Vanille« schreibt.
Keine Schoten, sondern Kapselfrüchte
Die Gewürzvanille oder Echte Vanille (Vanilla planifolia) stammt ursprünglich aus Mexiko und Mittelamerika und ist eine Orchideenpflanze – die einzige Orchidee, die als Nutzpflanze verwendet wird. Zwar bilden 15 Arten der Vanille aromatische Kapseln aus, dennoch deckt die Gewürzvanille heute über 90 Prozent der weltweiten Erzeugung dieses Stoffs ab.
Die Pflanze enthält mehr als 50 verschiedene Aromastoffe, doch für das Hauptaroma sorgt Vanillin, das in den Schoten steckt. Dabei handelt es sich streng genommen aber nicht um Schoten, sondern um die fermentierten Kapselfrüchte der Pflanze.
Die Azteken nannten die Vanille »tlilxochitl« und würzten damit zum Beispiel ihr Schokoladengetränk, weshalb die spanischen Konquistadoren als erste Europäer mit dem Vanillegeschmack in Kontakt kamen. Der Name »Vanille« tauchte erstmals in einem lateinischen Text auf, den der Dominikanermönch Francisco Ximenez (1666–1721/22) ins Spanische übersetzte. Darin ist die Vanille als kleine Schote oder Hülle (»Vagina«) aufgeführt, die Ximenez mit dem Wort »Vainilla« bezeichnete.
Die Europäer verschifften zahlreiche Pflanzen aus den Kolonien in andere Länder, um sie dort auf Plantagen anzubauen. Kautschuk, Tee, Tabak oder Kakao – die Geschichte ist voll von Beispielen. Oft wurden die Setzlinge außer Landes geschmuggelt, doch nicht so bei der Vanille. Erst nach der Ausrufung von Mexikos Unabhängigkeit im Jahr 1810 gelangten Stecklinge auf andere Kontinente.
Gewürzvanille ohne Früchte
So begann 1819 die Niederländische Ostindien-Kompanie, Vanille in Südostasien zu kultivieren; 1822 schmuggelten französische Kolonisatoren die Gewürzvanille auf die Insel La Réunion im Indischen Ozean. Die Pflanzen wuchsen und blühten auch dort, allerdings ohne Früchte. Der Grund: Es fehlte die Bestäubung. In Mittelamerika übernahmen heimische Tiere diese Aufgabe, wie die Stachellose Biene oder bestimmte Kolibri-Arten.
Erst 1836 gelang es dem Botanikprofessor Charles Morren, die Vanille künstlich zu befruchten. Sein Verfahren war aber für einen großflächigen Einsatz nicht besonders praktikabel. Somit blieb das mittelamerikanische Vanille-Monopol bestehen – zumindest bis 1841. In jenem Jahr hatte ein zwölfjähriger Sklavenjunge auf Réunion namens Edmond Albius die entscheidende Idee: Mit einem dünnen Stock oder einer Bambusspitze setzte er die Pollen auf den Stempel der Blüte.
Damit erfand er das Verfahren zur manuellen Bestäubung der Gewürzvanille, das noch heute angewandt wird und das die großflächige Kultivierung der Vanille erst ermöglichte. Über das Leben von Edmond Albius ist allerdings nicht viel bekannt. Seine Mutter war Sklavin auf der französischen Insel und starb bei seiner Geburt. Dank der Entdeckung von Albius stieg Réunion zum größten Vanilleproduzenten der Welt auf. Und da die Insel bis 1848 Île Bourbon hieß, wurde die Gewürzorchidee als Bourbon-Vanille bekannt. Heute hingegen kommt die meiste Vanille aus dem westlich von Réunion gelegenen Madagaskar.
Die geernteten Früchte der Vanille duften allerdings noch nicht. Erst wenn sie fermentiert und getrocknet sind, entfalten die Stangen ihren markantesten Aromastoff: Vanillin – der Duft, dem Wilhelm Haarmann nachjagte. Geboren 1847 in Holzminden an der Weser im heutigen Niedersachsen, studierte er ab 1869 in Berlin Chemie, wo er den jungen Hochschullehrer Ferdinand Tiemann (1848–1899) kennenlernte, mit dem er gemeinsam an der Vanillin-Synthese tüftelte.
Der Durchbruch: Vanillin eroberte die Welt
In seinem Labor experimentierte Haarmann eifrig mit dem Coniferin von Wilhelm Kubel. Als er eines Morgens seine Destillate im Labor kontrollierte, fand er winzige feine und farblose Nadeln vor, die nach Vanille dufteten. Es war geschafft; er hatte Vanillin synthetisiert – und zwar naturidentisch. Das heißt, er hatte es nicht aus fermentierten Vanillepflanzen isoliert, sondern aus dem Rindensaft eines Baums hergestellt. Ein sensationeller Erfolg, der 1874 in einer Firmengründung mündete: Haarmann & Reimer Vanillinfabrik in Holzminden an der Weser – die erste Riech- und Duftstofffabrik der Welt.
Einer industriellen Produktion stand aber zunächst die benötigte Menge des Rohstoffs im Weg. Es war viel zu aufwendig, an größere Mengen Kambialsaft zu kommen. 1874 stellten Haarmann & Reimer gerade einmal sieben Kilo Vanillin her.
Erst als der Kambialsaft durch Eugenol, den Hauptinhaltsstoff des Gewürznelkenöls, abgelöst wurde, gelang es, die Produktionskapazitäten massiv zu erhöhen und die Herstellungskosten zu senken. 1895 steigerte die Fabrik die Produktion bereits auf 500 Kilogramm Vanillin pro Jahr. In den folgenden Jahrzehnten diente Vanillin dann nicht nur als Inhaltsstoff für Schokolade, Eis und Parfüm, sondern seither auch als Zutat in Küchen und Backstuben.
Vanillin ist der erste synthetische Duftstoff und wird heute weltweit von allen Aromen am häufigsten verwendet. Den Anstoß dazu gab Wilhelm Haarmann, der mit seinen Arbeiten einen neuen Zweig der Chemieindustrie gründete, den der Riechstoffe und Aromen.
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