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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom unglücklichen Erfinder des Einkaufszentrums

Er wollte die sterilen Vorstädte nach europäischem Vorbild beleben. Doch es kam anders als gedacht: Am Ende bedrohte Victor Gruens Erfindung sogar die Städte seiner alten Heimat.
Amerikanische Shopping Mall der 1950er Jahre

Victor Gruen zählt zu den erfolgreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen prägen bis heute zahlreiche Städte und Vororte. Doch von seinem größten Erfolg distanzierte er sich im Lauf seines Lebens immer mehr. »Ich werde immer wieder der Vater der Shopping Mall genannt«, sagte er, »ich möchte die Gelegenheit nützen, diese Vaterschaft zurückzuweisen. Ich weigere mich, Alimente für diese Bastardobjekte zu zahlen. Sie haben unsere Städte zerstört.«

Was war passiert? Um das zu verstehen, müssen wir etwas tiefer in die Biografie dieses Mannes einsteigen, der 1903 in Wien als Victor David Grünbaum geboren wurde und 1938 als Jude vor den Nazis fliehen musste – im allerletzten Moment übrigens: Weil ein Freund sich als SA-Mann verkleidete, schaffte er es über die Grenze in die Schweiz und von dort weiter nach New York.

Die Shopping Mall als Pendant zur europäischen Innenstadt

In seiner Heimat hatte er Architektur studiert, ein Architekturbüro gegründet und Geld mit dem Umbau von Geschäftslokalen verdient. Seine Spezialität: ausgedehnte Schaufenster und große Glasflächen. In den USA angekommen, bekam Grünbaum, der sich nun Gruen nannte, bald ebenfalls die ersten Aufträge für den Umbau von Geschäften. Mit der Designerin Elsie Krummeck, seiner zweiten Ehefrau, eröffnete er das Architekturbüro Gruen und Krummeck. Gemeinsam entwarfen sie für einen Wettbewerb das Konzept für ein Einkaufszentrum. Bald jedoch trennten sich ihre Wege, mit Gruens größter Erfindung, der Shopping Mall, wird sie später kaum noch in Verbindung gebracht. Sein nächstes Architekturbüro Victor Gruen Associates wurde bald zu einem der größten in den USA – es besteht noch heute.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Ausgangspunkt und Vorbild für die Shopping Mall waren die europäischen Stadtzentren, die Gruen in seiner Jugend erlebte – die turbulenten Innenstädte mit ihren Läden, Schaufenstern, aber eben auch nichtkommerziellen Räumen, wie Parkanlagen, Kindergärten, Spielplätzen oder Büchereien. So etwas gab es in den USA bestenfalls in manchen Großstädten, nicht aber in den oftmals aus dem Boden gestampften Vororten. Die Suburbs waren in den Augen Gruens »entwurzelte« Orte, und Abhilfe sollte die Shopping Mall schaffen: Neben Einkaufsmöglichkeiten boten sie auch Gemeinschaftsleben für die Anwohner. Zumindest in Gruens Vision. Es sollte anders kommen.

Mit ihren sozialen und kulturellen Räumen, wie sie Gruen vorschwebten, und ihrer Lage in den Vororten unterschieden sich die Einkaufszentren von den großen Kaufhäusern, die bereits seit dem 19. Jahrhundert etabliert waren, etwa Harrods in London oder die Galeries Lafayette in Paris. Das waren mehrstöckige, innerstädtische Einzelhandelsgeschäfte mit großem Sortiment. Eine Mall hingegen versammelt zahlreiche, voneinander unabhängige Geschäfte in einem großen Gebäudekomplex.

Gruens Name stand bald für Stadtflucht und Kommerz

In den 1950er Jahren bekam Gruen nun Gelegenheit, seine Vision umzusetzen. Zunächst durch den Umbau eines Kaufhauses in Detroit. Das Northland Center eröffnete 1954 mit ungefähr 100 Geschäften. Neben den Verkaufsräumen gab es auch einen Kindergarten und einen Arkadenhof mit Bänken, Brunnen und Skulpturen.

Victor Gruen im Jahr 1978 in Wien | Gruen verstand sich zeitlebens als Sozialist. Das Foto zeigt ihn nach seiner Rückkehr nach Österreich bei einer Veranstaltung der Aktion »Sozialisten gegen Atomenergie«.

Die erste richtige Shopping Mall folgte dann zwei Jahre später mit dem Southdale Center in einem Vorort von Minneapolis. Ein voll klimatisiertes Gebäude mit Geschäften auf zwei Etagen – das noch heute existiert. Und hier wurde später auch der Grueneffekt oder -transfer erstmals beschrieben: Psychologen untersuchten das Einkaufsverhalten und kamen zu dem Ergebnis, dass Kundinnen und Kunden durch die Größe und die Unübersichtlichkeit des Angebots überwältigt werden und dadurch empfänglicher für Verkaufsmanipulationen sind.

Dem Konzept Shopping Mall tat das keinen Abbruch – im Gegenteil. Auf das Zentrum in Minneapolis folgten bald weitere. In vielen Vorstädten in den USA entstanden nun Shopping Malls, und überhaupt nahm der private Konsum in den 1960er Jahren deutlich zu. Immer größer wurde gebaut, immer mehr Geld in die Komplexe gesteckt. Und damit die Inverstoren auf ihre Kosten kamen, fielen die von Gruen geforderten Gemeinschaftsräume bald dem Kommerz zum Opfer. Das Ergebnis waren riesige Verkaufsmaschinen, aber keine Orte des sozialen und kulturellen Lebens.

Die Kunden kamen trotzdem. Ein Einkaufszentrum vor Ort machte die Suburbs umso attraktiver, was weit reichende Folgen hatte: Die Mittelschicht zog aus den Innenstädten in die Vorstädte und hinterließen bald verlassene und verfallende Innenstädte. Bald wurde Gruens Name vor allem mit Stadtflucht und Suburbanisierung in Verbindung gebracht.

Die Vision einer autofreien Stadt der kurzen Wege

Gruen haderte mit dieser Entwicklung, hatte sie doch genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er beabsichtigte: Während er versuchte, das Modell der europäischen Innenstadt in die amerikanische Vorstadt zu bringen, drang die Shopping Mall nun sogar in die europäischen Städte und bedrohte dort genau das Modell des urbanen Lebens, das er zum Vorbild hatte.

Er beschloss daher Ende der 1960er Jahre zurück nach Wien zu gehen, um dort mit neuen Ideen zur Stadtentwicklung beizutragen. Und auch hier waren seine Ideen visionär: Er forderte autofreie Städte mit Fußgängerzonen. Es war ein Kampf gegen eine Planungsbürokratie, die an einer »Autoneurose« litt, wie Gruen es nannte. Verwirklichen konnte er seine innovativen Ideen in Wien nicht mehr. Victor Gruen starb 1980 in seiner Geburtsstadt.

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