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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von drei Schweizer Ärzten, die den Kropf ausmerzten

Um den Jodmangel zu bekämpfen, entwickelten drei Schweizer Landärzte eine flächendeckende Therapie: Sie mischten Jod ins Speisesalz, wie unsere Geschichtskolumnisten erzählen.
Männer mit Kröpfen aus der Steiermark. Zeichnung von 1819.
Die kolorierte Zeichnung aus dem Jahr 1819 zeigt Männer mit Kröpfen. Sie sollen aus der Steiermark stammen. Im gesamten Alpenraum war die Schwellung der Schilddrüse weit verbreitet.

Als Johann Wolfgang von Goethe 1779 die Schweiz besuchte, sagten ihm die Bewohner des Kanton Wallis nicht besonders zu. Rein äußerlich. »Die scheußlichen Kröpfe haben mich ganz und gar üblen Humors gemacht«, schrieb er in einem Brief. Nicht nur im Wallis, sondern in vielen Teilen der Schweiz und im Alpenraum waren damals Kröpfe allgegenwärtig. Als Kropf wird umgangssprachlich die Vergrößerung der Schilddrüse bezeichnet. Der medizinische Fachausdruck dafür lautet Struma. Und in 90 Prozent der Fälle entsteht ein Kropf durch ernährungsbedingten Jodmangel.

Der Kropf war zu Goethes Zeiten keine neue Erscheinung. Bereits aus der Antike sind Berichte dazu überliefert. Aber in der Schweiz zählte die Schwellung der Schilddrüse zu einem der drängendsten Gesundheitsprobleme, von der weite Teile der Bevölkerung betroffen waren. Ein Kropf kann zu Schluckbeschwerden oder Atemnot führen, wenn die vergrößerte Schilddrüse auf die Luftröhre drückt. In manchen Schweizer Gebieten wurde in den 1920er Jahren deswegen sogar ein Viertel der Männer ausgemustert.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Bei Jodmangel produziert der Körper zu geringe Mengen der Schilddrüsenhormone. Aus diesem Grund fühlen sich Betroffene abgeschlagen und schwach. Gravierender sind die Folgen des Jodmangels für Ungeborene oder Kleinkinder. Sie entwickeln das Jodmangelsyndrom, auch Kretinismus genannt, das in der Schweiz weit verbreitet war. Die Folgen: massive Entwicklungsstörungen sowie neurologische Schäden, verkürzte Extremitäten und Sprachstörungen. Doch vor mehr als 100 Jahren war es drei Schweizer Landärzten gelungen, die Drüsenschwellung erfolgreich zu behandeln. Mit jodiertem Salz.

Der Kropf – wirklich eine Mangelerscheinung?

Die ersten Berichte darüber, dass die Gabe von Jod die Schilddrüse abschwellen ließ, erschienen bereits kurz nach der Entdeckung des Spurenelements in den 1820er Jahren, wie der Medizinhistoriker Pascal Germann im Fachblatt »Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin« schreibt. So hat 1820 der Genfer Arzt Jean-François Coindet (1774–1834) vorgeschlagen, Jod als Heilmittel gegen den Kropf zu verabreichen. Damals kam schon die Idee vom Jodsalz auf: Der französische Chemiker Jean Baptiste Boussingault (1802–1887) schlug vor, jodhaltiges Salz gegen das Kropfproblem zu verabreichen. Doch der medizinische Durchbruch dieser Therapie ließ auf sich warten. Auch weil die meisten Mediziner anfangs nicht überzeugt waren, dass tatsächlich ein Mangel Krankheiten hervorrufen würde.

Und das zu einer Zeit, als die Medizin bedeutende wissenschaftliche Fortschritte machte. Im Standardwerk über Schilddrüsenkrankheiten aus dem Jahr 1909 stand noch, es sei abwegig, dass ein Stoffmangel einen Kropf verursachen würde. Zudem konzentrierten sich die meisten Mediziner damals auf Infektionskrankheiten. Seit Robert Koch und Louis Pasteur Ende des 19. Jahrhunderts die Bakteriologie geschaffen hatten, waren Gelehrte wie wild auf der Suche nach Krankheitserregern und erklärten sie als Ursache vieler Erkrankungen. Und so erkundeten Mediziner sämtliche Gewässer der Schweiz nach den Kropferregern – ohne Erfolg. Durch die jahrzehntelange Suche nach Bakterien oder Viren geriet die Idee vom Jodmangel in den Hintergrund. Obwohl die Lösung für das Gesundheitsproblem schon lange bekannt war.

Das änderte sich in den 1910er Jahren. Wissenschaftler begannen, Nährstoffe genauer zu untersuchen, insbesondere die Vitamine. 1914 gelang es dem US-Forscher Edward Kendall (1886–1972), das Schilddrüsenhormon Thyroxin zu isolieren. Er stellte fest, dass es Jod enthält. Heute ist bekannt, dass die beiden Hormone der Schilddrüse – Thyroxin und Trijodthyronin – jodhaltig sind. Sie sind an fast allen Prozessen des Körpers beteiligt, besonders am Stoffwechsel und dem Wachstum von Zellen. Jod, das nicht vom Körper selbst gebildet werden kann, ist daher lebensnotwendig und zählt zu den essenziellen Spurenelementen.

Der Jodmangel der Eidgenossen

Weil die Böden in der Schweiz kaum Jod enthalten, war das Land besonders stark vom Jodmangel betroffen. Es ist daher kein Zufall, dass die Jodmangeltheorie und die Jodsalzprophylaxe dort ihren Durchbruch feierte – abseits der großen Forschungsinstitute und Universitäten. Und es waren drei Landärzte, die sich mit dem Problem befassten.

Den Anfang machte Heinrich Hunziker (1879–1982), ein Hausarzt aus dem Dorf Adliswil im Kanton Zürich. In einem Vortrag 1914 zeigte er, dass ein Kropf entsteht, weil sich der Körper an eine jodarme Ernährung anpasst. Hunziker schlug eine Therapie mit geringer Dosierung von Jod vor.

Es blieb aber die Frage, wie sich dauerhaft geringe Mengen Jod in der Bevölkerung verteilen ließen. Ständig ein Medikament einzunehmen, hätte sich in der Breite wahrscheinlich nicht durchgesetzt. Salz stellte sich daher als ideale Alternative heraus. Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Salz und konsumieren es täglich. Außerdem ist es lebensnotwendig. Hinzu kommt, dass Jod einfach ins Salz gemischt werden kann und damals quasi überall verfügbar war.

Während Heinrich Hunziker die Jodsalzprophylaxe publik machte, setzte sie Otto Bayard (1881–1957), ein Walliser Allgemeinarzt aus Zermatt, in die Tat um. Er führte ab 1918 systematisch Tests zur Wirkung von Jod im Salz durch. In einem abgelegenen, stark vom Jodmangel betroffen Dorf wählte er mehrere Familien aus, die er mit Jodsalz versorgte. Einige Monate später kontrollierte er die Ergebnisse und stellte fest: Die Maßnahme hat funktioniert, die Schilddrüsen der Betroffenen waren deutlich weniger geschwollen als zuvor.

Die Schweizer Erfolgsgeschichte vom Jodsalz

Im kleinen Maßstab hatte es also geklappt, aber ließ sich die Methode auch auf größere Bevölkerungsteile übertragen? Bayard wählte nun zwei weitere Dörfer aus und versorgte sie mit Jodsalz. Das Ergebnis nach einem halben Jahr: Die Kröpfe verschwanden.

Nun begannen die Schweizer Bundesbehörden, sich für die Jodversuche zu interessieren. In einer Kropfkommission wurde beraten, ob und wie das Jodsalz im ganzen Land verteilt werden sollte. Eine staatliche Gesundheitsmaßnahme in diesem Maßstab durchzuführen, war neu, und es galt zu klären, ob die Bevölkerung darüber informiert werden und vielleicht selbst die Wahl haben sollte, Salz mit oder ohne Jod zu kaufen. Letztlich wurde empfohlen, dass nun jodiertes Salz erworben werden sollte.

Nun kam der dritte Schweizer Landarzt ins Spiel: der Chirurg Hans Eggenberger (1881–1946) aus dem Kanton Appenzell. Er startete eine Kampagne, mit der er sich für die Jodierung von Kochsalz aussprach. Auf diese Weise initiierte er in Appenzell eine erfolgreiche Volksinitiative für die Einführung von Jodsalz. 1922 dann stimmte die Bevölkerung der Idee mehrheitlich zu.

Das war der Auftakt einer beispiellosen Erfolgsgeschichte, wie der Journalist Jonah Goodman 2022 im Magazin des Schweizer »Tages-Anzeiger« darlegt. Die Kropfkommission hatte den Kantonen empfohlen, Jodsalz einzuführen. Seit 1930 ist jodiertes Salz überall in der Schweiz erhältlich. Und seither spielen Kropf und Kretinismus in dem Land kaum noch eine Rolle.

Der Erfolg dieser Präventionsmaßnahme führte dazu, dass sich das Modell der Jodmikrodosierung in vielen Teilen der Welt verbreitete. In Österreich ist Jodsalz seit 1963 verpflichtend. Anders in Deutschland: Eine gesetzliche Verordnung gibt es nicht, seit 1981 darf Jodsalz jedoch ohne den Hinweis »nur bei ärztlich festgestelltem Jodmangel« verkauft werden. Seit 2007 gilt Deutschland zwar nicht mehr als Jodmangelgebiet, aber ungefähr ein Drittel der Deutschen leidet heutzutage wieder an Jodmangel. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit etwa 750 Millionen bis eine Milliarde Menschen davon betroffen sind. Offenbar braucht die Welt dringend eine Renaissance der Schweizer Jodsalztherapie.

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