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Freistetters Formelwelt: Wenn Strömungen ihre wahre Natur offenbaren

Von Raumfahrt über Meteorologie bis hin zu Geophysik: Strömungen sind überall. Und die Knudsen-Zahl erklärt, wie man sie beschreibt.
Abstrakte Darstellung wellenförmiger Strukturen in lebendigen Farben. Die Wellen verlaufen von links nach rechts und zeigen eine Farbpalette von Blau über Lila, Pink, Orange bis Gelb. Jede Welle besteht aus feinen, parallelen Linien, die eine dynamische Bewegung suggerieren. Der Hintergrund ist in einem sanften Blau gehalten, das in den oberen Bereich des Bildes übergeht. Die Komposition vermittelt ein Gefühl von Energie und Fluss.
Strömungen begegnen uns überall: im Wind, im Spülbecken, in einem Bach. Oft vergessen wir, dass diese Ströme eigentlich aus winzigen Teilchen bestehen.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Luft, die uns umgibt, besteht aus unzähligen Molekülen. Davon merken wir aber nichts, sondern nehmen sie – wenn überhaupt – als kontinuierliche Strömung wahr. In den meisten Fällen können wir die Tatsache ignorieren, dass sie aus Teilchen besteht. Doch je dünner die Luft in großer Höhe wird, desto relevanter werden die Moleküle. Wann man die Teilchennatur berücksichtigen muss und wann nicht, kann man mit der sogenannten »Knudsen-Zahl« abschätzen:

Kn=λL

Diese Kennzahl berechnet sich aus dem Verhältnis der mittleren freien Weglänge λ und der charakteristischen Länge L. Die mittlere freie Weglänge gibt an, wie weit sich ein Molekül im Durchschnitt bewegen kann, bevor es mit einem anderen zusammenstößt. Die charakteristische Länge L hängt vom konkreten System ab, das man betrachtet: zum Beispiel vom Durchmesser eines Rohrs, durch das Luft strömt, oder von den Komponenten eines Flugzeugs, deren Verhalten in unterschiedlichen Luftströmungen untersucht wird.

Ist die Teilchendichte hoch, dann ist die mittlere freie Weglänge klein und – bei gleichem L – damit auch die Knudsen-Zahl. In diesem Fall kann man vernachlässigen, dass die Luft aus einzelnen Molekülen besteht, und ihr Verhalten makroskopisch als Kontinuumströmung beschreiben. Ist die Knudsen-Zahl hingegen sehr groß, muss man das Verhalten der einzelnen Gasteilchen explizit berücksichtigen.

Das ist unter anderem relevant, wenn man es nicht mehr mit Flugzeugen zu tun hat, die vergleichsweise nahe am Erdboden fliegen, sondern mit Raumfahrzeugen, die sich durch die äußersten Schichten der Atmosphäre bewegen. Dort, in mehr als 100 Kilometern Höhe, ist die Dichte der Luft so gering, dass ein Molekül viele Meter oder sogar kilometerweit fliegen kann, ohne dabei mit einem anderen zu kollidieren. Ein Satellit spürt daher keinen klassischen Luftwiderstand, wird aber dennoch immer wieder von den Teilchen getroffen. Dieser »molekulare Widerstand« darf nicht vernachlässigt werden, wenn man die Bewegung des Raumfahrzeugs korrekt beschreiben will, ist jedoch deutlich komplexer zu berechnen als der klassische aerodynamische Widerstand. Ganz besonders aufwendig wird es, wenn es um den Wiedereintritt geht, bei dem sich ein Raumschiff in kurzer Zeit durch Bereiche mit unterschiedlichen Knudsen-Zahlen bewegt.

Nicht nur in der Raumfahrt sinnvoll

Der dänische Physiker Martin Knudsen, nach dem diese Zahl benannt ist, hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings nicht mit Raumfahrt beschäftigt, sondern mit der Strömung von Gasen durch Röhren bei geringem Druck. Heute ist seine Arbeit in so gut wie allen Bereichen der Physik relevant. Natürlich in der Vakuumphysik, bei der man beispielsweise berücksichtigen muss, dass die verbleibenden Teilchen in einem nicht perfekten Vakuum vor allem mit den Wänden des Geräts kollidieren anstatt untereinander – aber auch beim Wärmetransport durch Gase oder bei der Diffusion von Teilchen.

In der Meteorologie und Geophysik lassen sich die Luftschichten mit der Knudsen-Zahl beschreiben; in der Planetologie charakterisiert man damit, wie gut Himmelskörper in der Lage sind, eine Atmosphäre zu halten. Und in der Astronomie ist das Konzept vor allem immer dann relevant, wenn es um Gase mit sehr geringer Dichte geht, wie man sie etwa in interstellaren Wolken findet. Damit daraus zum Beispiel neue Sterne entstehen können, müssen die Wolken kollabieren, was etwa durch eine Supernova-Explosion ausgelöst werden kann. Und wie sich eine so ausgelöste Schockfront dann durch ein extrem dünnes Gas bewegt, hängt von der jeweiligen Knudsen-Zahl ab. 

Eigentlich beschreibt diese Zahl nur, wie weit sich ein Teilchen bewegen kann, doch ihre Konsequenzen sind enorm. Denn sie entscheidet darüber, welche Physik angewendet werden muss.

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