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Freistetters Formelwelt: Die komplexeste Schneeflocke der Welt

Mathematisch lassen sich komplexe Phänomene oft unerwartet einfach beschreiben. Doch hinter dieser Einfachheit verbergen sich überraschend vielfältige Welten.
Schneeflocken

In der fraktalen Geometrie findet man eine Vielzahl faszinierender Objekte. Zu den bekanntesten gehört die Koch-Kurve, die auch häufig als kochsche Schneeflocke bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um eine Linie, die unendlich lang ist, aber nur eine endliche Fläche umschließt.

Die Kurve ergibt sich durch einen iterativen Prozess. Ausgangspunkt ist eine gerade Linie. Im ersten Schritt wird diese in drei gleich lange Abschnitte unterteilt. Nun wird der mittlere Abschnitt durch ein gleichseitiges Dreieck ersetzt, dessen Basis der mittlere Abschnitt ist. Im letzten Schritt wird die Basislinie des Dreiecks (der ursprüngliche mittlere Abschnitt) entfernt. So hat man die eine gerade Linie durch einen Streckenzug aus vier Abschnitten ersetzt.

Im nächsten Schritt wird die gleiche Ersetzung auf all diesen vier Streckenabschnitten durchgeführt, danach wiederholt man das Ganze auf den nun 16 Segmenten und so weiter. Im Grenzfall von unendlich vielen Schritten erhält man eine fraktale Kurve, die tatsächlich an eine Schneeflocke erinnert.

Kochsche Schneeflocke

Man kann den gesamten Prozess auch durch eine Formel beschreiben:

Es ist allerdings ein wenig Kontext nötig, um sie zu verstehen. Die zwei einander folgenden »-«-Symbole legen nahe, dass es sich nicht um eine Rechenvorschrift handelt. Vielmehr ist der Ausdruck Teil eines so genannten Lindenmayer-Systems. Dieser Formalismus geht auf den ungarischen Biologen Aristid Lindenmayer zurück, der damit die Entwicklung von Organismen mathematisch beschreiben wollte. Ein Lindenmayer-System (oder L-System) besteht formal aus einer Liste, die ein »Alphabet« enthält, also Zeichen, die sich als Variablen und Konstanten interpretieren lassen. Außerdem braucht man noch ein Axiom oder »Startwort« und eine Menge an Produktions- beziehungsweise Ersetzungsregeln.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Der seltsame Ausdruck mit den vielen Fs ist genauso eine Ersetzungsregel. Und zwar die, die zum L-System für die Koch-Kurve gehört. Die Symbole »+« und »-« stehen für Drehung gegen beziehungsweise mit dem Uhrzeigersinn (in diesem Fall um 60 Grad). Die Produktionsregel sagt also: Gehe eine vorgegebene Strecke nach vorne (F steht für »forward«), drehe dich um 60 Grad gegen den Uhrzeigersinn, gehe wieder ein Stück nach vorne, drehe dich zweimal um 60 Grad mit dem Uhrzeigersinn, gehe noch mal nach vorne, drehe dich wieder um 60 Grad gegen den Uhrzeigersinn und gehe ein letztes Mal nach vorne. Man sieht leicht, dass daraus die für eine Koch-Kurve nötige Ersetzung der Strecke durch ein Dreieck folgt.

Von Algen zu Fraktalen

Aristid Lindenmayer war 1968 aber nicht an Geometrie interessiert, sondern am Wachstum von bestimmten Algen. Er bemerkte, dass sich deren Zellen in zwei unterschiedlichen Zuständen befinden konnten: im Fortpflanzungszustand A oder im Wachstumszustand B. Ist sie im Zustand A, wird sie sich in zwei Zellen teilen, von denen eine im Fortpflanzungszustand und eine im Wachstumszustand ist. Im Zustand B wird sie sich zum Fortpflanzungszustand A weiterentwickeln. Oder, wenn man das in entsprechenden Ersetzungsregeln formuliert: (A→AB) und (B→A). Startet man mit einer Zelle im Zustand A, entwickelt sie sich demnach zu AB. Daraus wird ABA. Danach erhält man ABAAB, danach ABAABABA – und so weiter.

L-Systeme eignen sich dazu, das Wachstum von mehrzelligen Organismen zu untersuchen; insbesondere das Wachstum von Pflanzen kann dadurch realistisch modelliert werden. In ihnen steckt jedoch noch viel mehr Potenzial; sie finden in der theoretischen Informatik Anwendung, in der fraktalen Geometrie und bei der Erforschung von künstlichem Leben. Auch wenn man nur mit ein paar einfachen Bausteinen und simplen Regeln anfängt, kommt man am Ende erstaunlich weit. Die Komplexität, die daraus erwachsen kann, sollte man nicht unterschätzen.

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