Krebs verstehen: Wie sicher ist eine Krebsdiagnose?

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Gerade geht eine Schocknachricht durch die Medien: In Bremen erhielten 34 Frauen mit Brustkrebs unnötige Chemotherapien und zielgerichtete Therapien, weil eine Pathologin ihre Tumorproben falsch beurteilt hatte. Mancher Krebspatient zweifelt nun womöglich seine eigene Krebserkrankung an und fragt sich: Wie sicher ist eine Krebsdiagnose überhaupt?
Erst einmal zurück zum Fall aus Bremen: Nach bisherigem Kenntnisstand leiden alle 34 Betroffenen tatsächlich an Brustkrebs – die grundsätzliche Diagnose war also korrekt. Der Fehler lag in der Einordnung der Tumorart. Diese ist aber entscheidend für eine erfolgreiche Therapie.
Brustkrebs ist keine einheitliche Krankheit, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Krebsarten, die sich unterschiedlich verhalten und dementsprechend behandelt werden sollten. Pathologen teilen die Tumoren anhand bestimmter Merkmale der Krebszellen ein: 1. Tragen sie an ihrer Oberfläche Östrogen- und/oder Progesteronrezeptoren? 2. Besitzen sie den Wachstumsfaktorrezeptor HER2? Tumoren mit Östrogen- und/oder Progesteronrezeptoren gelten als hormonrezeptorpositiv, solche mit HER2 als HER2-positiv. Fehlen diese Merkmale, spricht man von triple negativ. Zudem wird der Zellteilungsmarker Ki-67 bestimmt, der zeigt, wie schnell der Tumor wächst.
Um die Art des Brustkrebses zu bestimmen, untersuchen Pathologinnen und Pathologen die Tumorproben unter dem Mikroskop. Sie behandeln das Probenmaterial mit so genannten Antikörpern, die an die genannten Strukturen binden und sie farblich sichtbar machen. So lässt sich erkennen, wie viele Tumorzellen die jeweiligen Merkmale tragen. Genau hier unterlief der Pathologin offenbar ein Fehler. Wie es dazu kommen konnte, ist nicht öffentlich bekannt.
Wenn die Diagnose falsch ist: Folgen für die Therapie
Solch eine fehlerhafte Beurteilung kann fatale Folgen haben: Hat ein bösartiger Brusttumor noch keine Metastasen im Körper gebildet, ist das Ziel in allen Fällen, ihn operativ zu entfernen. Doch je nach Einschätzung – hormonrezeptorpositiv, HER2-positiv oder triple negativ – empfehlen Leitlinien unterschiedliche Behandlungen: So kann vor der OP entweder gar keine Therapie nötig sein oder aber eine Hormon-, Chemo- oder Antikörpertherapie erfolgen.
Die falschen Diagnosen der Bremer Pathologin hatten gravierende Konsequenzen: 34 Patientinnen erhielten dadurch unnötigerweise Antikörper- und auch Chemotherapien. Diese Behandlungen, das weiß ich aus meinem Arbeitsalltag, können schwere Nebenwirkungen verursachen. Manche sind vorübergehend, etwa Haarausfall, Übelkeit, Erbrechen oder Allergien. Andere können dauerhaft bleiben, wie Gefühlsstörungen an Händen und Füßen, Unfruchtbarkeit oder in seltenen Fällen eine Herzschwäche. Außerdem verstreicht während der falschen Therapie wertvolle Zeit, in der der Tumor weiter wachsen kann.
Wie sichern Ärzte eine Krebsdiagnose ab?
In meinem beruflichen Alltag habe ich zum Glück noch nie erlebt, dass Patienten eine falsche Krebstherapie erhalten haben. Einer der wichtigsten Sicherheitsmechanismen ist meiner Meinung nach, dass ich eine Krebsdiagnose nie allein stelle, sondern mit vielen Ärztinnen und Ärzten aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Bei Brustkrebs läuft es beispielsweise so: Eine Patientin ertastet in ihrer Brust einen Knoten und sucht ihre Gynäkologin oder ihren Gynäkologen auf. Dort wird sie körperlich untersucht und nach Beschwerden, Risikofaktoren und Fällen von Krebs in ihrer Familie befragt. Es folgen ein Ultraschall der Brust und der Lymphknoten in der Achsel sowie gegebenenfalls eine Mammografie. Besteht aus Sicht des Arztes oder der Ärztin weiterhin der Verdacht auf Brustkrebs, wird eine Gewebeprobe entnommen und an die Pathologie geschickt. Bestätigt sich der Befund, prüft ein Radiologe, ob sich der Krebs im Körper ausgebreitet hat. Erst wenn alle beteiligten Ärzte zum gleichen Schluss kommen, wird die Diagnose Brustkrebs gestellt.
Solche Einschätzungen erfolgen oft in einem so genannten Tumorboard. Dort diskutieren Fachleute auch schwierige Fälle, etwa wenn Metastasen gefunden werden, aber unklar ist, wo der Ursprungstumor sitzt. Die Beschwerden des Patienten, die Laborwerte, das Ausbreitungsverhalten des Tumors, sein Aussehen in der Bildgebung und unter dem Mikroskop müssen ein stimmiges Bild ergeben. Ist das nicht der Fall, folgen weitere Untersuchungen. Verhält sich eine diagnostizierte Krebserkrankung im Verlauf ungewöhnlich, entnehmen Ärzte häufig erneut Gewebe, um zu prüfen, ob sich die Eigenschaften des Tumors verändert haben. Bei seltenen Krebserkrankungen wie Sarkomen ist es außerdem üblich, Tumorproben zu so genannten Referenzpathologien zu schicken.
Auch bevor wir Krebsmedikamente verabreichen, greifen Schutzmechanismen: So frage ich beispielsweise vorher meine Patienten jedes Mal nach ihrem Namen und Geburtsdatum und gleiche die Angaben mit dem Etikett ab, selbst wenn ich sie schon lange kenne und mir sicher bin, wer vor mir steht. So soll verhindert werden, dass Patienten fälschlicherweise ein Medikament erhalten, das für eine andere Person bestimmt ist.
Wie kann es zu Fehldiagnosen bei Brustkrebs kommen?
Trotz der ganzen Sicherheitsmaßnahmen kam es in Bremen aber nun zu den Fehldiagnosen. Wie ist das zu erklären? Die Bremer Krebsgesellschaft fordert eine »vollständige und transparente Klärung aller Abläufe, die zu den Fehlbefundungen geführt haben« und eine »unabhängige Überprüfung der fachlichen Prozesse in Diagnostik und Qualitätssicherung«. Nur so lässt sich verstehen, wie die Fehler entstanden sind und welche schützenden Maßnahmen künftig notwendig sind. Was mich stutzig macht: Laut Medienberichten interpretierte die Ärztin vor Februar 2025 Hunderte Proben richtig. Das könnte darauf hindeuten, dass es plötzlich Probleme mit den Geräten oder Reagenzien gab.
»Deutschland hat nur sehr wenige Pathologinnen und Pathologen. In den USA ist jeder 70. Arzt ein Pathologe, in Deutschland jeder 200.«
Wie häufig solche schwerwiegenden Fehler in Deutschland passieren, lässt sich nicht beziffern. Eine kleine US-Studie zeigte jedoch: Bei der Beurteilung von Brustkrebsgewebe stimmten 96 Prozent der Pathologen mit der Diagnose einer Expertengruppe überein. Doch bei Krebsvorstufen wichen die Einschätzungen der Pathologen deutlich häufiger ab. Qualitätsstandards in pathologischen Abteilungen wie Akkreditierungen durch Aufsichtsbehörden, standardisierte Abläufe und ein Vier-Augen-Prinzip machen die Diagnosen deutlich sicherer.
Im internationalen Vergleich zeigt sich jedoch ein deutliches Problem: Deutschland hat nur sehr wenige Pathologinnen und Pathologen. In den USA ist jeder 70. Arzt ein Pathologe, in Deutschland jeder 200. Das hat zur Folge, dass hierzulande nicht jede Gewebeprobe routinemäßig von zwei Pathologen untersucht werden kann. Das Vier-Augen-Prinzip bleibt vor allem schwierigen Fällen vorbehalten. Einige pathologische Abteilungen handhaben es so, dass zumindest jede Krebsdiagnose von zwei Pathologen gestellt werden muss. In Bremen war dies zum Zeitpunkt der Fehldiagnosen wohl nicht der Fall.
An dieser Stelle möchte ich eine Lanze für meine Kolleginnen und Kollegen der Pathologie brechen. Ohne sie könnte ich keinen einzigen Krebspatienten behandeln. Nur sie können mir sagen, was mein Patient überhaupt hat. Ein Facharzt für Pathologie hat mindestens zwölf Jahre Ausbildung hinter sich: etwa sechs Jahre Medizinstudium, sechs weitere Jahre Facharztweiterbildung.
Und wichtig: Pathologen sind keine Rechtsmediziner. Sie führen zwar auch Obduktionen durch, doch den Großteil ihrer Arbeit verbringen sie damit, Gewebeproben unter dem Mikroskop zu beurteilen. Sie sind also absolute Spezialisten. Während Onkologen und Chirurgen für ihre Behandlung Dank erhalten, haben Pathologen oft gar keinen persönlichen Kontakt zu den Patienten. Viele Betroffene wissen gar nicht, dass eine erfolgreiche Therapie ohne diese Fachleute nicht möglich wäre.
Was ich Patientinnen und Patienten rate
Dass Patienten falsche Medikamente erhalten, gehört zu den schlimmsten Fehlern in der Krebsmedizin. Den betroffenen Bremer Patientinnen wünsche ich eine vollständige Genesung – von ihren Tumorerkrankungen und den falschen Therapien. Solche Fehler sind zum Glück selten. Ich hoffe sehr, sie erschüttern nicht das Vertrauen in die Krebsbehandlung in Deutschland. Künstliche Intelligenz wird meiner Meinung nach künftig immer häufiger Tumorproben analysieren und Pathologen bei der Diagnose unterstützen.
»Ein behandelnder Arzt beobachtete, dass die Tumoren bei zwei Patientinnen nicht auf die angeblich für ihre Tumorart passende Therapie ansprachen«
Patientinnen und Patienten rate ich, sich bei Unklarheiten einfach zu erkundigen. Die Frage »Ist meine Diagnose sicher?« ist absolut verständlich und Ärzte erklären gerne, wie sie zu ihrer Einschätzung gekommen sind. Lassen Sie sich Befunde wie Pathologieberichte, Bildgebung, Tumorboardbeschlüsse, Laborwerte und Arztbriefe aushändigen. Auch kann es helfen, Angehörige zu Gesprächen mitzunehmen. Vier Ohren hören mehr als zwei, und manche verstehen medizinische Sachverhalte vielleicht besser. Auch empfehle ich, die Diagnose in einem zertifizierten Krebszentrum stellen zu lassen, in dem ein Tumorboard stattfindet. Außerdem steht es Patienten zu, eine Zweitmeinung einzuholen.
Ein kleiner Lichtblick im aktuellen Fall ist für mich, dass jemand die Fehler bemerkt hat: Ein behandelnder Arzt beobachtete, dass die Tumoren bei zwei Patientinnen nicht auf die angeblich für ihre Tumorart passende Therapie ansprachen. Das machte ihn misstrauisch. Er glaubte nicht blind dem Befund, sondern betrachtete das Gesamtbild – genau so funktioniert gute Krebsmedizin.
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