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Krebs verstehen: Trojanische Pferde gegen Krebs

Sie spüren Krebszellen auf, dringen in deren Inneres vor und entfalten dort ihre tödliche Wirkung: Wirkstoffe, die an Antikörper gekoppelt sind. Welche Krebsarten sich damit gezielter behandeln lassen und so die Überlebenschancen steigern, erläutert Marisa Kurz in »Krebs verstehen«.
Illustration von Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten. Antikörper-Wirkstoff-Konjugate bestehen aus einem Antikörper (blau), der sich spezifisch an bestimmte Oberflächenmerkmale von Krebszellen heftet, und einem daran gekoppelten Chemotherapeutikum (orange). Sie sind über ein sogenanntes Linker-Molekül miteinander verbunden.
Antikörper-Wirkstoff-Konjugate bestehen aus einem Antikörper (blau), der sich spezifisch an bestimmte Oberflächenmerkmale von Krebszellen heftet, und einem daran gekoppelten Chemotherapeutikum (orange). Ihr Ziel ist es, Krebszellen gezielt zu bekämpfen und gesundes Gewebe zu schonen.

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.

Als Ärztin in der Onkologie verabreiche ich nahezu täglich Chemotherapeutika. Die Mittel zählen zu unseren wichtigsten Waffen gegen Krebs: Manche Tumoren lassen sich allein durch eine Chemotherapie heilen. In anderen Fällen setze ich sie vor oder nach einer Operation ein, um das Risiko eines Rückfalls zu senken.

Doch ich kenne auch die Schattenseite dieser Therapieform: Chemotherapeutika greifen vor allem Zellen an, die sich schnell teilen. Dazu gehören Krebszellen, aber leider auch gesunde. Die Substanzen wirken also nicht gezielt. So entstehen unerwünschte Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Haarausfall.

Wirkstoffe gezielt in Tumorzellen einschleusen

Könnte man Chemotherapeutika nicht einfach gezielt in Krebszellen schleusen? Das gilt als so etwas wie der Heilige Gral in der Onkologie. Ein vielversprechender Ansatz sind sogenannte Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (antibody-drug conjugates, ADCs). Sie nutzen aus, dass manche Krebszellen auf ihrer Oberfläche charakteristische Merkmale tragen, die auf gesunden Zellen selten oder gar nicht vorkommen. Diese Strukturen sind ideale Angriffspunkte für Medikamente.

Antikörper-Wirkstoff-Konjugate kombinieren zwei bewährte Strategien: Chemotherapien und zielgerichtete Behandlungen. Sie bestehen aus einem Antikörper, der sich spezifisch an bestimmte Oberflächenmerkmale von Krebszellen heftet, und einem daran gekoppelten Chemotherapeutikum, die über ein sogenanntes Linker-Molekül miteinander verbunden sind.

»Schon kleinste Mengen, die versehentlich gesundes Gewebe erreichen, können schwere Nebenwirkungen verursachen«

Die komplizierten Namen solcher Medikamente – etwa Trastuzumab-Deruxtecan oder Mirvetuximab-Soravtansin – setzen sich aus zwei Teilen zusammen: der Bezeichnung des Antikörpers und der des Chemotherapeutikums. Dockt der Antikörperteil an die Krebszelle an, nimmt diese das Chemotherapeutikum auf, welches sie dann von innen zerstört. Sozusagen ein Trojanisches Pferd der Medizin.

Effektive Chemotherapie ohne Nebenwirkungen?

Wer jetzt denkt: »Endlich eine zielgenaue Chemotherapie ohne starke Nebenwirkungen!«, den muss ich leider enttäuschen. Zwar wirken ADCs deutlich präziser als andere Mittel, doch sie bergen auch Risiken. So können sie etwa ihre Ladung auf dem Weg im Blut verlieren, was Chemotherapeutika ungezielt im Körper freisetzen würde. Zudem kommen manche Zielstrukturen in geringem Maß ebenso auf gesunden Zellen vor. Nicht zuletzt tragen die Antikörper hochwirksame Medikamente, um Krebszellen möglichst effektiv zu bekämpfen. Schon kleinste Mengen, die versehentlich gesundes Gewebe erreichen, können schwere Nebenwirkungen verursachen. Manche Medikamente können etwa die Lungen oder Augen schädigen. Deshalb veranlasse ich regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei meinen Patienten.

Trotz dieser Herausforderungen gelten ADCs als besonders wirksam und kommen daher bei einer Vielzahl von Krebserkrankungen zum Einsatz, beispielsweise bei Brust-, Eierstock-, Magen- oder Blasenkrebs sowie bei Blut- und Lymphdrüsenkrebserkrankungen. In einigen Fällen wirken die trojanischen Pferde so gut, dass sie schon heute zur Erstlinientherapie gehören, also als Mittel erster Wahl nach der Diagnose gelten. So etwa beim metastasierten Urothelkarzinom, einer Form von Blasenkrebs, die von der Schleimhaut des Harntrakts ausgeht. Betroffene können zwar nicht geheilt werden, überleben mit einer Kombination aus Enfortumab-Vedotin und einer Immuntherapie aber doppelt so lange wie mit einer Standardchemotherapie.

Auch bei anderen fortgeschrittenen Krebserkrankungen verlängern ADCs die Überlebenszeit. Etwa bei metastasiertem HER-2-positivem Brustkrebs. Auch Frauen mit metastasiertem sogenanntem HER2-low-Brustkrebs, die schon mindestens eine Vortherapie erhalten hatten, lebten nach der Behandlung mit Trastuzumab-Deruxtecan länger – im Schnitt 24 Monate, verglichen mit 17 Monaten unter herkömmlicher Chemotherapie. Das Fortschreiten der Erkrankung ließ sich mit dem ADC deutlich hinauszögern.

Manche Blut- und Lymphdrüsenkrebserkrankungen kann eine ADC-Behandlung sogar komplett heilen. So leben beim fortgeschrittenen Hodgkin-Lymphom nach sieben Jahren noch 94 Prozent der Patienten mit Brentuximab-Vedotin plus Chemotherapie, verglichen mit rund 89 Prozent bei alleiniger Chemotherapie.

Antikörper mit radioaktiver Fracht

In Deutschland sind rund zehn Antikörper-Wirkstoff-Konjugate zugelassen. Doch das ist erst der Anfang: Zahlreiche weitere ADCs werden derzeit in klinischen Studien getestet. Künftig könnten ADCs auch früher in der Therapie eingesetzt werden – etwa bei Erkrankungen wie Brustkrebs, bei denen sie bislang bloß genutzt werden, wenn andere Behandlungen versagen.

Wissenschaftler arbeiten daran, die Medikamente noch wirksamer und verträglicher zu machen. Sie suchen zum Beispiel Zielstrukturen, die praktisch ausschließlich auf Krebszellen vorkommen, oder versuchen die Linker, die Antikörper und Chemotherapeutika miteinander verbinden, zu verbessern. Denn: Sind diese zu stabil, werden die Medikamente in den Krebszellen schlecht freigesetzt. Sind sie zu schwach, gelangen sie zu früh ins Blut.

Auch an unterschiedlichen Wirkstoffladungen wird geforscht, etwa an sogenannten Radioimmunkonjugaten. Hier sind statt eines Chemotherapeutikums radioaktive Moleküle an die Antikörper gebunden. Ihr Vorteil: Die Strahlung kann nicht nur die Zielzelle zerstören, sondern auch umliegende Krebszellen und die für ihr Gedeihen wichtige Tumorumgebung. Darüber hinaus stellen Resistenzen ein geringeres Problem dar. Denn Krebszellen können zwar lernen, Chemotherapeutika aus ihrem Inneren herauszupumpen. Gegen Strahlung können sie sich jedoch nicht so leicht schützen.

Antikörper-Wirkstoff-Konjugate sind nicht mehr aus der Onkologie wegzudenken. Wir werden sie in Zukunft immer häufiger einsetzen – auch in neuen Formen und in Kombination mit Immuntherapien sowie anderen zielgerichteten Therapien. Sie bringen uns dem Ziel einer präziseren, wirksameren und verträglicheren Krebstherapie ein gutes Stück näher.

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