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Krebs verstehen: Schützt Aspirin vor Krebs?

Aspirin kennen viele vor allem als Schmerzmittel. Doch Beobachtungen zeigen, dass es womöglich das Krebsrisiko senkt. Wer davon profitieren könnte, erklärt Marisa Kurz.
Eine Tablette löst sich in Flüssigkeit auf.
Aspirin – auch bekannt als ASS – gehört zu den bekanntesten Schmerzmitteln weltweit.

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.

Viele Menschen nehmen regelmäßig Acetylsalicylsäure (ASS) ein – besser bekannt als Aspirin. Manche kaufen das Medikament auf eigene Faust, um Kopfschmerzen oder Fieber zu lindern. Andere erhalten es auf ärztliche Verordnung, etwa bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße oder der Schlagadern in Hals oder Beinen, da es die Blutgerinnung hemmt. Seit Jahrzehnten fällt Forschern ein bemerkenswerter Zusammenhang auf: Wer ASS einnimmt, stirbt statistisch gesehen seltener an Krebs – selbst bei bereits bestehender Krebserkrankung. Was bedeutet das? Sollten nun alle, ob gesund oder an Krebs erkrankt, Aspirin einnehmen?

Was Beobachtungsstudien über ASS und Krebs verraten

Die Beobachtungen stammen überwiegend aus nachträglichen Auswertungen von Studien, in denen Menschen ASS oder ein Placebo gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhielten. Krebs stand dabei ursprünglich gar nicht im Fokus. Doch für belastbare Aussagen braucht es gezielte Fragestellungen. Nur so lässt sich ermitteln, ob ein Medikament tatsächlich vor Krebs schützt oder den Verlauf einer bereits bestehenden Erkrankung positiv beeinflusst.

Ein möglicher Studienaufbau könnte so aussehen: Eine Gruppe erhält ASS, die andere ein Placebo. Weder Patienten noch Behandler wissen, wer welches Präparat einnimmt. Es handelt sich damit um eine sogenannte randomisierte, doppelblinde, placebo-kontrollierte Studie. Die Gruppen sollten sich zudem in Alter, Geschlecht und bestehenden Vorerkrankungen ähneln. Nur so lässt sich prüfen, ob Menschen, die ASS einnehmen, seltener an Krebs erkranken oder daran versterben. Viele solcher Studien gibt es allerdings nicht.

Ob ASS generell das Sterberisiko bei gesunden älteren Menschen verringert, untersuchte ein Forschungsteam aus Australien und den USA. Krebs war zwar auch in dieser Studie keine spezifische Fragestellung. Doch die groß angelegte, randomisierte und placebo-kontrollierte Studie lieferte zumindest Hinweise: Rund 10 000 Probanden nahmen täglich ASS ein, ebenso viele Placebo. Überraschend: Nach etwa fünf Jahren starben in der ASS-Gruppe sogar etwas mehr Menschen an Krebs. Eine spätere Auswertung der Daten fand aber spezifische Unterschiede innerhalb der beiden Gruppen: Bei Nichtrauchern, die im Laufe des Lebens bestimmte Veränderungen in ihren Blutzellen entwickeln, könnte eine vorbeugende ASS-Einnahme das Krebsrisiko senken, wenn zusätzlich ein niedriger BMI und eine familiäre Häufung von Krebserkrankungen vorliegen. Für andere war das Krebsrisiko dagegen erhöht.

Auch eine weitere große, placebo-kontrollierte Studie mit rund 40 000 Frauen – die Women’s Health Study – prüfte, ob ASS das Krebsrisiko reduziert: Gesunde Probandinnen erhielten zehn Jahre lang Aspirin, Vergleichspersonen ein Placebo. Die Anzahl der Krebsfälle in den beiden Gruppen unterschied sich jedoch nicht.

»Beobachtungen zeigen immer wieder, dass Menschen, die ASS einnehmen, ein geringeres Darmkrebsrisiko haben«

Kann Aspirin das Darmkrebsrisiko verringern?

Wissenschaftler interessieren sich besonders für den Zusammenhang zwischen ASS und Darmkrebs. Denn: Beobachtungen zeigen immer wieder, dass Menschen, die ASS einnehmen, ein geringeres Darmkrebsrisiko haben. Allerdings stammen auch diese Hinweise meist aus Studien, die ursprünglich Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersuchten – nicht aber Krebs.

Um gezielt zu prüfen, ob ASS das Rückfallrisiko nach einer Darmkrebsbehandlung senkt, führten Forscher eine Studie mit Betroffenen durch, die eine OP und anschließende Chemotherapie hinter sich hatten. Rund 1600 Patienten erhielten drei Jahre lang täglich entweder 200 Milligramm ASS oder ein Placebo. Nach fünf Jahren lebten in beiden Gruppen ähnlich viele Menschen ohne erneute Krebserkrankung. Komplexer wird es bei Patienten mit dem Lynch-Syndrom, die ein erhöhtes Darmkrebsrisiko haben. 400 Betroffene erhielten im Rahmen der sogenannten CAPP2-Studie zwei Jahre lang entweder ein Placebo oder prophylaktisch Aspirin. Nach zehn Jahren waren 9 Prozent der ASS-Gruppe an Darmkrebs erkrankt, in der Placebo-Gruppe 13 Prozent. Eine neuere Auswertung verschiedener Studien zeigt jedoch, dass die bisherigen Daten nicht klar belegen, dass sich ASS zur Darmkrebsprophylaxe beim Lynch-Syndrom eignet.

Die häufigste Krebsart im Darm, das kolorektales Karzinom, entsteht im Dickdarm (Kolon) oder Enddarm (Rektum). Experten empfehlen aktuell in der zugehörigen Leitlinie, dass Menschen nicht einfach ASS einnehmen sollten, um das Risiko für Darmkrebs zu senken. Bei Menschen mit Lynch-Syndrom könne eine medikamentöse Prävention mit ASS erwogen werden, doch mögliche Risiken sollten sorgfältig abgewogen werden.

Denn in der CAPP2-Studie nahmen die Probanden mit 600 Milligramm ASS eine sehr hohe Dosis ein. Da das Medikament die Blutgerinnung hemmt, steigt das Risiko für Blutungen, vor allem im Verdauungstrakt, aber auch im Gehirn. In der Nachfolgestudie CAPP3 erhielten Menschen mit Lynch-Syndrom 100, 300 oder 600 Milligramm ASS. Erste, noch unvollständig veröffentlichte Auswertungen deuten darauf hin, dass die niedrigeren Dosen ebenfalls wirken könnten. Allerdings fehlt in dieser Studie eine Placebogruppe.

Auch bei einer anderen Patientengruppe könnte ASS vor Darmkrebs schützen, genauer gesagt vor einem Rückfall: Menschen mit einer sogenannten PIK3CA-Mutation. In einer Studie erhielten Betroffene nach einer Darmkrebs-OP drei Jahre lang täglich ASS oder ein Placebo. Das Risiko für einen Rückfall der Krebserkrankung war bei der ASS-Gruppe um rund 50 Prozent geringer als in der Placebogruppe.

Wie ich diese Erkenntnis in meiner Arbeit umsetzen soll, weiß ich allerdings nicht. Denn derzeit wird bei Patienten mit Darmkrebs im frühen Stadium nicht routinemäßig auf eine PIK3CA-Mutation getestet, da dies die Therapiewahl nicht beeinflusst. Ob meine Patienten diese Veränderung tragen, kann ich also nicht wissen.

Wie könnte ein Schmerzmittel gegen Krebs wirken?

Forscher vermuten, dass ASS im Körper Entzündungsreaktionen bremst, die Krebs begünstigen können. Zudem könnte es Signalwege beeinflussen, die das Tumorwachstum ankurbeln. Tierversuche legen darüber hinaus nahe, dass Aspirin das Immunsystem gegen Metastasen scharfstellt.

Mein Fazit: ASS generell als Krebsprophylaxe einzunehmen, ist nicht sinnvoll – und nicht ungefährlich. Das Medikament kann schwere, teils lebensbedrohliche Komplikationen verursachen. Bestimmte Personengruppen, etwa jene mit Lynch-Syndrom, können jedoch von einer regelmäßigen Einnahme profitieren. Ich bin sehr gespannt, welche Zusammenhänge zwischen ASS und Krebs die Forschung noch aufdecken wird.

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