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Krebs verstehen: Kann die Abnehmspritze vor Krebs schützen?

Mittel wie Ozempic helfen bei Diabetes und Übergewicht und gelten inzwischen fast als medizinische Wundermittel. Ob sie auch das Krebsrisiko senken können, erklärt Ärztin Marisa Kurz in »Krebs verstehen«.​
Hände halten einen so genannten Fertigpen mit dem Wirkstof Semaglutid.
Kleiner Pieks, einfache Gewichtsabnahme – allerdings mit Nebenwirkungen.

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.

Kein Medikament begegnet mir so häufig in meinen Social-Media-Feeds wie die »Abnehmspritze«. Gemeint sind damit Wirkstoffe wie Semaglutid (bekannt als Ozempic oder Wegovy) oder Tirzepatid (Mounjaro), die ursprünglich zur Behandlung von Diabetes Typ II entwickelt wurden. Inzwischen nutzen viele sie aber auch, um besonders effektiv Gewicht zu verlieren. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist enorm, begleitet von Berichten über überraschende Nebenwirkungen: »Ozempic Face« etwa beschreibt ein eingefallenes Gesicht nach raschem Gewichtsverlust. »Ozempic Babys« wiederum werden Kinder genannt, die Frauen nach lange unerfülltem Kinderwunsch bekommen haben – womöglich dank der Gewichtsabnahme mithilfe der Spritze. Eine neue Studie wirft nun die Frage auf: Helfen die Mittel nicht nur gegen unerwünschte Pfunde, sondern schützen sogar vor Krebs?

Wie die Abnehmspritze wirkt

Diese Medikamente ahmen unter anderem die Wirkung des körpereigenen Hormons Glucagon-Like-Peptide-1 (GLP-1) nach. Es wird nach jeder Mahlzeit ausgeschüttet, regt die Zellen der Bauchspeicheldrüse zur Insulinproduktion an und senkt den Blutzuckerspiegel. Gleichzeitig dämpft es den Appetit und verlangsamt die Magenentleerung.

Mittel wie Semaglutid – sogenannte GLP-1-Rezeptoragonisten – gelten zunehmend als medizinische Multitalente. Sie haben sich gegen Diabetes Typ II bewährt, werden inzwischen aber auch bei Adipositas eingesetzt. Außerdem zeigen Studien, dass sie gegen eine Fettleber wirken, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken und das Fortschreiten einer chronischen Nierenerkrankung bremsen könnten. Helfen die eierlegenden Wollmilchsäue der Medizin nun womöglich auch noch gegen Krebs?

US-Wissenschaftler haben Gesundheitsdaten von mehr als 40 000 übergewichtigen Personen, die GLP-1- Rezeptoragonisten erhielten, mit denen einer ebenso großen Kontrollgruppe verglichen. In der behandelten Gruppe war das Krebsrisiko um fast 20 Prozent verringert. Das Risiko für Gebärmutterkrebs lag rund 25 Prozent niedriger, das für Eierstockkrebs sank sogar um fast 50 Prozent. Allerdings war die Gefahr für Nierenkrebs etwas erhöht, doch nicht statistisch signifikant. Betrachtet man das absolute Risiko, zeigt die Studie: Unter 1000 Menschen, die jeweils ein Jahr lang beobachtet werden, erkrankten 13,6 behandelte Personen an Krebs, bei den nicht behandelten 16,4. Eine weitere Datenauswertung von Patienten, die Medikamente wegen Diabetes Typ II erhielten, ergab: Das Risiko für 10 von 13 Krebsarten, die mit Übergewicht assoziiert sind, war deutlich reduziert. Auch der Verlauf einer bereits bestehenden Krebserkrankung könnte durch die Mittel positiv beeinflusst werden.

Britische Forscher haben am Computer modelliert, wie Abnehmspritzen die Zahl neuer Krebserkrankungen verändern könnten. In einer simulierten Bevölkerung von 54 Millionen Erwachsenen wären demnach ohne Intervention in den nächsten zehn Jahren rund 3,5 Millionen neue Krebsfälle zu erwarten. Würde man allen Menschen mit einem BMI über 30 die Spritze anbieten und die Hälfte von ihnen nähme deutlich ab, könnten laut Modellierung rund 21 000 Krebsfälle verhindert werden.

»Übergewicht zählt generell zu den wichtigsten Risikofaktoren für verschiedene Krebsarten«

Langzeitstudien zum Krebsrisiko fehlen

Doch nicht alle Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass Wirkstoffe wie Semaglutid das Krebsrisiko senken. Eine Metaanalyse von 50 Studien mit den Abnehmmitteln zeigt keinen klaren Unterschied bei der Häufigkeit von Krebserkrankungen. Zwei andere Metaanalysen deuten sogar darauf hin, dass GLP-1-Rezeptoragonisten das Risiko für Schilddrüsen- und Darmkrebs erhöhen könnten.

Wieso sind die Daten so widersprüchlich? Die bisherigen Studien waren selten darauf ausgelegt, den Einfluss der Medikamente auf das Krebsrisiko zu untersuchen. Es fehlt an Untersuchungen, die so aufgebaut sind, dass sie diese Frage beantworten können. Krebs entwickelt sich oft über Jahre und tritt meist in höherem Alter auf. Es braucht also lange Beobachtungszeiträume und mehr Forschung, um den Zusammenhang zwischen den Abnehmspritzen und Krebs zu verstehen. Die anfangs genannten Studienergebnisse sind entsprechend mit Vorsicht zu genießen.

Der beste Schutz vor Krebs

Unabhängig davon zählt Übergewicht generell zu den wichtigsten Risikofaktoren für verschiedene Krebsarten. Auch die Prognose einer bereits bestehenden Krebserkrankung verschlechtert sich oft bei Übergewicht. Körperliche Aktivität und eine ausgewogene Ernährung bleiben die besten Mittel, um sein Risiko für Übergewicht – und damit für Krebs – zu senken.

Hinzu kommt: Abnehmspritzen sind nicht völlig ungefährlich. Nebenwirkungen wie Übelkeit reduzieren die Lebensqualität; in seltenen Fällen drohen ernsthafte Komplikationen wie Augenschäden. Die Wirkung und Sicherheit der Abnehmmedikamente ist nur für Menschen mit krankhaftem Übergewicht oder schweren Erkrankungen wie Diabetes Typ II bewiesen – nicht für normalgewichtige Menschen ohne Grunderkrankungen, die sie womöglich als Lifestyle-Mittel einsetzen wollen.

In den sozialen Medien sehe ich regelmäßig Vorher-nachher-Videos von Menschen, die Abnehmspritzen verwenden. Es wirkt verlockend: ohne Sport einfach ein paar Kilo verlieren und nebenbei sogar noch das Risiko für tödliche Erkrankungen senken. Ich gebe zu, ich habe selbst schon kurz mit dem Gedanken gespielt, mit meinem Arztausweis einfach in die nächste Apotheke zu laufen und mir die Wunderspritze zu kaufen. Aber dann hat mich die Vernunft wieder eingeholt. Die Spritzen sind hervorragende Medikamente für bestimmte Erkrankungen und werden in Zukunft wahrscheinlich bei noch mehr Krankheiten eingesetzt. Doch ein Wundermittel gegen Krebs sind sie nach allem, was man heute weiß, nicht. Da helfen Sport und eine gesunde Ernährung mit Sicherheit mehr – und die gibt es für weniger Geld und praktisch ohne Nebenwirkungen.

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