Direkt zum Inhalt

Freistetters Formelwelt: Auf Verbrecherjagd mit Taschenrechner statt Pistole

Numb3rs statt Tatort: Verbrechen mit Mathematik zu bekämpfen, ist tatsächlich nicht nur im Film möglich, sondern auch in der Realität.
Schatten einer Pistole an der Wand
Bei der Suche nach einem Serientäter erweist sich Mathematik als hilfreich.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Anfang des Jahrtausends waren Krimis in Mode, in denen mit Hilfe der Wissenschaft ermittelt wird. Serien wie »Numb3rs«, »Criminal Minds« oder Filme wie »Oxford Murders« haben mathematische Fähigkeiten bei der Ermittlung in den Vordergrund gestellt. In der echten Welt wird zum Glück nicht so oft gemordet wie im Fernsehen. Die Mathematik kann aber auch hier bei der Aufklärung von Verbrechen helfen. Ein besonders interessantes Beispiel stellt diese Formel dar:

Pij=kc=1T[ϕ(|xixc|+|yiyc|)f+(1ϕ)(Bgf)2B(|xixc|+|yiyc|)f]

Sie stammt aus einer Arbeit mit dem Titel »Geographic Profiling: Target Patterns of Serial Murders«, die der kanadische Polizist Kim Rossmo im Jahr 1995 als Dissertation eingereicht hat. Rossmo hatte sich schon als Teenager für Wissenschaft interessiert; das von ihm begonnene Mathematikstudium war ihm aber zu wenig anwendungsorientiert. Er wechselte zur Soziologie, von dort zur Kriminologie und begann parallel bei der Polizei von Vancouver zu arbeiten.

In seiner Dissertation hat sich Rossmo mit den geografischen Aspekten von Verbrechen beschäftigt. Bei einem Mord (beziehungsweise diversen anderen kriminellen Aktivitäten) müssen Täter und Opfer zur selben Zeit am selben Ort sein. Wenn der Mord – so wie in den meisten Fällen – im Familien- oder Bekanntenkreis stattfindet, ist es nicht schwer, vom Tatort auf den Täter zu schließen. Im Fall von Serientätern ist das schwieriger, da es hier keine solche Beziehung gibt. Aber ein paar Annahmen kann man trotzdem machen, zum Beispiel, dass ein Serienmörder nicht an seinem Wohnort zuschlagen wird. Gleichzeitig wird er sich auch nicht zu weit von seinem Wohnort entfernen, um seine Verbrechen zu begehen. Wenn man das auf die richtige Weise mathematisch berücksichtigt, kann eine Analyse der Tatorte zur Aufklärung der Verbrechen führen.

Eine Formel für die Verbrecherjagd

Genau das hat Rossmo in seiner Formel versucht. Sie besteht aus zwei Termen: Der erste beschreibt das, was innerhalb einer Pufferzone mit dem Radius B um einen Tatort passiert, der zweite das, was außerhalb liegt. Die Funktion φ ist gleich 0, wenn Punkt (xi/yi) innerhalb der Pufferzone um einen Tatort (xc/yc) liegt. Liegt der Punkt außerhalb, dann drückt er eine mit der Distanz zum Tatort abnehmende Wahrscheinlichkeit aus. Der zweite Term ist außerhalb der Pufferzone gleich 0 und innerhalb zeigt er eine mit der Distanz zum Tatort steigende Wahrscheinlichkeit. In der Praxis wird die in Frage kommende geografische Region mit einem Raster aufgeteilt. Die Koordinaten der Tatorte und andere Plätze, an denen der Täter aktiv gewesen ist oder sein könnte, werden bestimmt und mit der Formel für jedes Kästchen im Raster die entsprechende Wahrscheinlichkeit berechnet. Das Resultat ist eine Karte, die angibt, wie wahrscheinlich es ist, dass der Täter an einem bestimmten Ort lebt.

Rossmos Formel hat in der konkreten Polizeiarbeit tatsächlich schon geholfen, ist aber natürlich nicht in allen Fällen anwendbar. Wenn der Serientäter zwischen den Verbrechen den Wohnort wechselt oder durchs Land zieht, dann kann man eine Wahrscheinlichkeitsanalyse dieser Art nicht verwenden. Die Formel funktioniert umso besser, je mehr Datenpunkte – also Verbrechen – es gibt, was zwar aus mathematischer Sicht wünschenswert ist, aus allen anderen Sichtweisen jedoch nicht.

Man kann Rossmos Formel aber auch in anderen Zusammenhängen verwenden. 2022 hat Michał Górski von der Universität Warschau die forensische Mathematik verwendet, um Daten über Piratenangriffe aus dem 17. und 18. Jahrhundert zu untersuchen und so ihre Stützpunkte zu identifizieren. Man kann Rossmos Formel und Variationen davon benutzen, um das Jagdverhalten von Tieren zu analysieren, Erdbeben zu untersuchen oder vermisste Personen zu finden.

Das echte Leben ist selten so aufregend und – zum Glück! – so gewalttätig wie die Krimiserien im Fernsehen. Aber die Mathematik hilft überall weiter.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.