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Lobes Digitalfabrik: Was der Gang über die Person verrät

Der Gang ist ein einzigartiges biometrisches Merkmal, das Smartphones quasi nebenbei erfassen können. Nicht nur die chinesische Polizei interessiert das, schreibt unser Digitalkolumnist Adrian Lobe.
Menschen auf einer Straßenkreuzung

Wer regelmäßig die ZDF-Sendung »Aktenzeichen XY … ungelöst« schaut, wird festgestellt haben, dass die Bilder aus den Überwachungskameras etwa in Tankstellen oder Bankfilialen häufig unbrauchbar sind. Die Täter sind maskiert (wobei das in pandemischen Zeiten nicht sonderlich auffällt), die Aufnahmen unscharf. Außer einem markanten Kleidungsstück erkennt man nicht viel, vor allem wenn sich die Zielperson rasch aus dem Fokus der Kamera bewegt. Zwar gibt es mittlerweile Gesichtserkennungssysteme, die Personen auch mit Maske identifizieren können. Wenn der Täter aber seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt, funktioniert auch diese Methode nicht. Doch es gibt noch ein weiteres verräterisches Indiz, das Straftäter entlarvt: der Gang.

»Spektrum«-Kolumnist Adrian Lobe kommentiert den digitalen Wandel. Wie gehen wir um mit fortschreitender Digitalisierung? Wie mit Bots und Meinungsmaschinen? Und welche Trends dominieren die Gesellschaft in Zukunft?
Alle Folgen von »Lobes Digitalfabrik« finden Sie hier.

Dieser ist – wie die Stimme oder Fingerabdrücke – ein einzigartiges biometrisches Merkmal, mit dem sich Menschen voneinander unterscheiden lassen. Dabei geht es nicht nur um X- oder O-Beine. Biometrie-Experten können in der Motorik von Menschen eine Vielzahl von Merkmalen identifizieren. Dazu gehören Beinlänge, Schrittlänge, Schrittgeschwindigkeit, Fußwinkel, Hüftwinkel und weitere. Wer einmal seine Beinlänge für die Bestimmung der Rahmenhöhe eines Rennrads gemessen hat, hat eine ungefähre Ahnung von diesen Werten. Bei der automatischen Gangerkennung steht jedoch niemand mit dem Maßband am Bein. Stattdessen analysieren Algorithmen den Bewegungsablauf.

Das Prinzip: Eine Software projiziert auf die Silhouette des Menschen Achsen und Punkte und errechnet aus den Abständen der Pixel in den einzelnen Bildsequenzen (Frames) Vektoren. Da der Gang periodisch ist – linkes Bein vor, rechtes Bein vor –, lassen sich die Stand- und Schwungphase wie auch der Armschwung als Kurve darstellen. Aus deren Frequenz beziehungsweise Amplitude lässt sich dann ein individuelles Bewegungsmuster ableiten. Das macht die Gangerkennung zu einem interessanten Werkzeug für Ermittler.

So setzt die chinesische Polizei seit geraumer Zeit eine Software ein, die in den Aufnahmen von Überwachungskameras Menschen an ihrem Gang und ihrer Statur erkennt. Das System soll Personen aus einer Entfernung von über 50 Metern identifizieren können, selbst wenn diese sich mit dem Rücken zur Kamera bewegen. Die automatische Gangerkennung könne weder durch absichtliches Hinken, gespreizte Beine noch eine bucklige Haltung ausgetrickst werden, zitierte die Nachrichtenagentur AP den Chef der Softwarefirma. Im Gegensatz zum Gesicht kann man seinen Gang nur schwer verbergen.

Und noch einen Vorteil hat die Ganganalyse gegenüber anderen biometrischen Identifizierungstechniken wie etwa Unterschrift oder Fingerabdrücke: Man braucht keinen Kontakt zu der Person. Die »Probe« lässt sich diskret aus der Distanz nehmen. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass die Messgenauigkeit in der Praxis – etwa im Gewusel einer Menschenmenge – gegenüber den kontrollierten Laborbedingungen abfällt.

Kamerafallen und Strichmännchen

Die Ursprünge der Bewegungsanalyse reichen zurück ins 19. Jahrhundert. 1878 sollte der britische Fotograf Eadweard Muybridge im Auftrag des kalifornischen Eisenbahn-Tycoons Leland Stanford klären, ob ein galoppierendes Rennpferd immer mit mindestens einem Huf den Boden berührt oder nicht. Auf einer Rennbahn in Palo Alto in Kalifornien ließ er zwölf Spezialkameras installieren, die nacheinander mit Hilfe von Stolperdrähten von den Pferden ausgelöst wurden. Die berühmte Serienaufnahme machte die einzelnen Bewegungsphasen sichtbar – und belegte, dass die Pferde für einen kurzen Moment tatsächlich in der Luft schweben. Es gilt als das erste GIF der Geschichte.

1971 ließ der schwedische Experimentalpsychologe Gunnar Johansson Lämpchen an die schwarze Kleidung von Schauspielern befestigen und bei ihren Bewegungen in einem abgedunkelten Raum filmen. Das Johansson-Experiment, das sich noch heute auf Youtube bestaunen lässt, wirkt als würde sich ein Strichmännchen durch die Landschaft bewegen, bei dem man vergessen hat, die Linien zu ziehen.

Diese Datenpunkte bilden die Grundlage für die moderne Ganganalyse – mit dem Unterschied, dass man heute viel mehr Daten hat. In der Medizin kommt das Verfahren zum Einsatz, um etwa das Stadium einer Parkinsonerkrankung besser zu bestimmen. Der Hintergrund: Bei Parkinsonpatienten schwingen Arme beim Gehen nicht mehr mit; die Bewegungs- beziehungsweise Gangdaten weichen deutlich von denen einer gesunden Person ab.

Auch im Profisport findet die Technik Anwendung: So wird im Rahmen des Videoassistenten (VAR) mit Hilfe von kalibrierten Linien geprüft, ob ein Spieler oder ein Körperteil wie zum Beispiel der Ellenbogen im Abseits ist. Bei Turnwettbewerben vermessen Computer mit Hilfe von 3-D-Sensoren und künstlicher Intelligenz tausende Bewegungspunkte und gleichen diese mit Vorgaberichtlinien ab.

Manchen Smartphones ist die Ganganalyse bereits eingebaut

Auch Smartphones erfassen mit Hilfe von Bewegungs- und Beschleunigungssensoren die Bewegungsdaten ihrer Nutzer. Auf dem iPhone etwa werden Gesundheitsdaten wie Schritte, Strecke oder Stockwerke angezeigt (wobei Letzteres beim Wandern in den Bergen nur ein Näherungswert ist). Mit iOS 14 misst Apple auch die Gehgeschwindigkeit, Schrittlänge, Gangasymmetrie sowie die Doppelstützzeit, also die Dauer jener Abschnitte, in denen beide Füße während des Gehens gleichzeitig den Boden berühren. Die neuen Mobilitätsmetriken sollen Verbrauchern, Forschern und Medizinern »einen Mechanismus zur Beurteilung der Mobilität im täglichen Leben außerhalb der klinischen Umgebung bieten«, heißt es bei Apple.

Erstellt Apple auch Gangprofile? Weiß der Konzern, wenn das iPhone in der Tasche eines – möglicherweise nicht – dazu berechtigten Nutzers landet? Wie steht es um die Datensicherheit? Nach dem Mord an einer Joggerin in Freiburg 2016 knackten IT-Forensiker das iPhone 6s des Tatverdächtigen. Die Auswertung der Standort- und Bewegungsdaten ergab, dass der Mann seinem Opfer vor der Tat aufgelauert war. Gut möglich, dass bald auch das auf dem Smartphone gespeicherte Gangmuster einen Täter entlarvt.

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