Krebs verstehen: Löst erhitzter Süßstoff Krebs aus?

Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
In den sozialen Medien tobt eine Debatte: Es mehren sich Berichte, dass beim Erhitzen von Lebensmitteln mit dem Süßstoff Sucralose Krebs erregende Stoffe entstehen. Dennoch werben zahlreiche Fitness-Influencer weiterhin dafür, Protein- und Geschmackspulver mit Sucralose beim Backen und Kochen zu verwenden. Wie gefährlich ist das Süßungsmittel wirklich?
Internationale und nationale Einrichtungen prüfen, ob Umwelteinflüsse und Substanzen, denen wir täglich begegnen, Krebs erregend sein könnten. Dazu zählen etwa Chemikalien, Medikamente, UV-Strahlung, Abgase oder auch bestimmte Krankheitserreger wie Viren. Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) teilt sie in vier Kategorien ein: Krebs erregend, wahrscheinlich krebserregend, möglicherweise krebserregend und nicht klassifizierbar.
Aus Laborversuchen mit menschlichen Zellen oder Tieren können Experten rückschließen, wie Substanzen wirken. Darüber hinaus zeigen Beobachtungsstudien, ob Menschen, die ihnen ausgesetzt sind, häufiger Krebs entwickeln. Auch wenn Substanzen bestimmte Eigenschaften bereits bekannter Krebs erregender Stoffe aufweisen, kann das auf ein potenzielles Risiko hindeuten.
In welchen Mengen eine Substanz für Menschen tatsächlich Krebs erregend ist, ist schwer zu bestimmen; Gleiches gilt für die möglichen Kontaktwege wie Nahrung, Haut oder Einatmen. Bei Verdacht raten Institutionen wie die IARC zur Vorsicht. Verbraucher haben so die Möglichkeit, informierte Entscheidungen zu treffen und bestimmte Substanzen zu meiden, wenn sie auf Nummer sicher gehen wollen.
Die Dosis macht das Gift
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Substanzen und Umweltbedingungen in welche IARC-Kategorien fallen: Krebs erregend sind Rauchen, Alkohol, prozessiertes Fleisch und UV-Strahlung. Wahrscheinlich krebserregend sind rotes Fleisch, Heißgetränke über 65 Grad und Nachtschichtarbeit. Als möglicherweise krebserregend gelten hochfrequente elektromagnetische Felder oder Titandioxid – ein Weißpigment in Wandfarbe oder auch Zahnpasta und Sonnencreme. In die Kategorie nicht klassifizierbar gehören Kaffee und Tee.
Erst neulich hatte ich einen 24-Stunden Dienst, vorhin war ich mit meinem Hund in der Sonne, eben habe ich mit dem Handy telefoniert, und während ich hier schreibe, trinke ich einen heißen Tee. Bekomme ich deswegen nun Krebs? Wahrscheinlich nicht. Denn Krebs entsteht aus einem Zusammenspiel angeborener und äußerer Faktoren, die wir teils durch unseren Lebensstil beeinflussen können. Die Dosis macht das Gift: Wer jahrelang täglich eine Schachtel Zigaretten raucht oder eine Flasche Wein trinkt, hat ein höheres Risiko, an Krebs zu erkranken, als jemand, der beides nicht tut.
Substanzen in derselben IARC-Kategorie sind nicht gleichermaßen Krebs erregend. Die IARC-Kategorie gibt nur an, wie gesichert die wissenschaftliche Einschätzung ist. Eine Substanz kann in geringen Mengen Krebs erregend sein, während eine andere aus derselben Kategorie im Alltag kaum schädlich ist. Rauchen etwa ist viel krebserregender als prozessiertes Fleisch.
Die IARC stuft den Süßstoff Aspartam als möglicherweise krebserregend ein. Gleichzeitig hält die WHO einen täglichen Verzehr von bis zu 40 Milligramm des Süßungsmittels pro Kilogramm Körpergewicht für unproblematisch. Wie passt das zusammen? Die Kategorie »möglicherweise krebserregend« bedeutet, dass es entweder begrenzte Evidenz für Krebs beim Menschen oder überzeugende Evidenz für Krebs bei Versuchstieren gibt – aber nicht beides. Die WHO betont jedoch, dass die IARC-Klassifikation nichts über die Gefährlichkeit einer Substanz im Alltag aussagt. Ein Liter eines mit Aspartam gesüßten Getränks enthält im Schnitt 75 Milligramm des Stoffs. Eine 70 Kilo schwere Person müsste also rund 37 Liter davon trinken, um eine kritische Menge zu erreichen.
In manchen Fällen sind sich Wissenschaftler nicht einig, ob eine Substanz als gefährlich eingestuft werden sollte. So teilt die Food and Drug Administration (FDA) die Einschätzung der IARC zu Aspartam beispielsweise nicht, da Studien hierzu methodisch unzureichend seien.
Beim Erhitzen von Sucralose können gesundheitsschädliche Stoffe entstehen
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnte schon 2019, beim Erhitzen von sucralosehaltigen Lebensmitteln könnten gesundheitsschädliche Verbindungen wie Dioxine und Chlorpropanole entstehen. Dioxine werden von der IARC als nicht klassifizierbar bezüglich ihres Krebspotenzials eingestuft. Doch giftig und gesundheitsschädlich sind sie in jeden Fall. Sie werden von Menschen hauptsächlich durch den Verzehr tierischer Produkte aufgenommen. Chlorpropanole wie 1,3-Dichloro-2-propanol werden von der IARC als möglicherweise krebserregend eingestuft – wie auch Aspartam. Die Verbindungen entstehen bei einer Reaktion von Salz und Fett beim Erhitzen und sind in einigen Lebensmitteln nachweisbar, wenn auch in geringer Menge.
Sucralose kann schon bei Temperaturen zwischen 120 bis 150 Grad Celsius zerfallen. Die Produkte können dann mit anderen Substanzen reagieren und gefährliche Stoffe bilden
Ich finde es besonders alarmierend, dass Wissenschaftler nach dem Erhitzen von Sucralose mit Öl auch so genannte dioxinähnliche polychlorierte Biphenyle nachweisen konnten. Sie sind als Krebs erregend eingestuft und stehen in der höchsten IARC-Kategorie. Sucralose, so schreibt das BfR, kann schon bei Temperaturen zwischen 120 bis 150 Grad Celsius zerfallen. Die Produkte können dann mit anderen Substanzen reagieren und gefährliche Stoffe bilden.
Wie gesundheitsschädlich erhitzte sucralosehaltige Lebensmittel tatsächlich sind, ist allerdings noch unklar. Eine abschließende Bewertung möglicher Risiken sei aus den derzeit vorliegenden Daten nicht möglich, schreibt das BfR. Viele Fragen sind offen: Welche Stoffe entstehen häufig beim Erhitzen sucralosehaltiger Lebensmittel und vor allem in welchen Mengen? Welche Temperaturen treten bei verschiedenen Koch- oder Backvorgängen auf und welche Substanzen entstehen dabei? Wie beeinflusst die Dauer des Kochens oder Backens die Bildung der Stoffe? Entstehen unterschiedliche Verbindungen, je nachdem, mit welchen Lebensmitteln Sucralose kombiniert wird? Und sind die gebildeten Mengen überhaupt gefährlich?
Das BfR soll den Schutz der Verbraucher sicherstellen und rät deshalb zur Vorsicht. Bis zu einer abschließenden Risikobewertung empfiehlt es, sucralosehaltige Lebensmittel nicht auf Temperaturen zu erhitzen, wie sie beim Backen, Frittieren oder Braten üblich sind.
Abnehmen mit Süßstoff?
Influencer zeigen in den sozialen Medien, wie sie Protein- und Geschmackspulver mit Sucralose zum Kochen und Backen verwenden, um Kalorien zu sparen. Wenn Personen Zucker durch Süßstoff ersetzen wollen, weil es ihnen dabei hilft, ein normales Gewicht zu erreichen oder zu halten, finde ich das grundsätzlich unterstützenswert. Denn Übergewicht zählt zu den wichtigsten vermeidbaren Risikofaktoren für Krebs und andere Erkrankungen. Doch wer sein Krebsrisiko senken will, muss nicht unbedingt auf Zucker verzichten – nicht der Zucker erhöht das Risiko für Krebs, sondern das oftmals mit einem hohen Zuckerkonsum verbundene Übergewicht.
Wer auf der sicheren Seite sein möchte, sollte meiner Meinung nach lieber nicht mit Sucralose backen und kochen, bis die Datenlage klarer ist. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wird im kommenden Jahr eine Einschätzung zur Gefährlichkeit erhitzter Sucralose veröffentlichen.
Dass Abnehmen auch ohne Süßstoff in der Küche funktioniert, verraten die Influencer in ihren Videos selbst: Entscheidend ist ein Kaloriendefizit. Tipps zum Backen und Braten mit Sucralose würde ich derzeit ignorieren. Stattdessen habe ich sinnvolle Einkaufs- und Koch-Tipps zum Kaloriensparen gefunden. Und wer nicht auf den Süßstoff verzichten will, soll ihn einfach nicht erhitzen – dann ist er nämlich völlig unbedenklich. Vielleicht stellt sich in der Zukunft heraus, dass Kochen und Backen mit Sucralose harmlos ist. Bis dahin gilt für mich: »better safe than sorry«.
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