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Freistetters Formelwelt: Macht Laufen einsam?

Beim Laufen kann man gut nachdenken. Zum Beispiel über die »Lonely-Runner-Vermutung«, ein seit 1967 ungelöstes Problem der Mathematik.
Ermüdeter Läufer
Laufen ist kein Teamsport – aber macht das Joggen wirklich einsam? Mathematiker glauben: ja.

Ich gehe gerne laufen und ich tue das am liebsten allein. Ich neige sogar dazu, absichtlich schneller zu laufen, um den Abstand zu eventuell vorhandenen anderen Laufenden zu vergrößern, wenn ich aus Versehen eine stark bevölkerte Strecke gewählt habe. Deswegen war ich auch ein wenig überrascht, als ich kürzlich auf ein mathematisches Problem gestoßen bin, das mein persönliches Verhalten in Formeln darstellt. Es geht um die so genannte Lonely-Runner-Vermutung; die »Vermutung des einsamen Läufers«.

Man kann sie durch diese Formel beschreiben:

Zur Veranschaulichung stellt man sich eine Gruppe von n Menschen vor, die eine kreisförmige Bahn entlanglaufen. Alle starten zum selben Zeitpunkt, aber mit jeweils voneinander unterschiedlichen Geschwindigkeiten vi, die während des Laufs konstant bleiben. Die Position einer Person i zum Zeitpunkt t lässt sich also durch {vit} schreiben, wobei die geschwungenen Klammern den Nachkommaanteil angeben, zum Beispiel {22,34512} = 0,34512.

Im Lauf der Zeit verteilen sich also alle Läufer um die Bahn herum, je nach individueller Geschwindigkeit: Mal kommen sie sich näher, mal entfernen sie sich voneinander. Die in der Formel dargestellte Vermutung besagt nun, dass irgendwann jede Person mindestens einmal »einsam« ist, also zum Zeitpunkt t einen Abstand von mindestens 1n zu allen anderen Personen hat. Wenn die kreisförmige Bahn zum Beispiel eine Länge von 1000 Metern hat und sich zehn Menschen darauf bewegen, sollte jede Person irgendwann mindestens 100 Meter von allen anderen entfernt sein.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Vermutung ist für bis zu sieben Personen bewiesen; für größere Zahlen fehlt aber noch ein Beweis. Das Problem wurde erstmals 1967 formuliert – ob die Vermutung für beliebige Werte n zutrifft, ist also seit fast 60 Jahren offen.

An diesem Beispiel erkennt man nicht nur, dass es oft ungleich schwerer ist, einen Satz zu beweisen als ihn zu formulieren. Man sieht vor allem sehr schön, was eine gute Veranschaulichung für die Wissenschaftskommunikation tun kann. Über die »Vermutung des einsamen Läufers« sind diverse populärwissenschaftliche Artikel geschrieben worden; man findet das Problem in vielen Vorlesungen und Büchern.

Auf die richtige Darstellung kommt es an

Auch mich hat es zum Verfassen dieser Kolumne angeregt, was der Originalartikel von Jörg Wills aus dem Jahr 1967 vermutlich nicht getan hätte. Der trägt den sperrigen Titel »Zwei Sätze über inhomogene diophantische Approximation von Irrationalzahlen« und betrachtet die Frage auf höchst abstrakte Weise. Es geht um reine Zahlentheorie und die Frage nach der Lösbarkeit von bestimmten Ungleichungen.

Die Veranschaulichung mit den Läufern stammt von dem Mathematiker Luis Goddyn, der dem Problem den »poetischen Titel«, wie er selbst schreibt, in einer Arbeit aus dem Jahr 1998 gab. Dort beweist er nicht nur die Vermutung für den Fall n = 4, sondern erwähnt auch, dass das Problem abseits der Zahlentheorie Anwendungen hat, zum Beispiel wenn es um n-dimensionale Geometrie geht. Die Vermutung lässt sich auch in der Graphentheorie formulieren – aber ohne das anschauliche Beispiel des einsamen Läufers hätte es innerhalb und außerhalb der Mathematik vermutlich deutlich weniger Verbreitung gefunden.

Die Mathematik tickt da nicht anders als der Rest der Welt: Wenn etwas die Fantasie anregt, wird es gleich ein wenig interessanter. Es braucht nicht nur die richtigen Rechenschritte, um ein Problem zu lösen, sondern vor allem die passenden inspirierenden Gedanken. Je vielfältiger sich eine Fragestellung darstellen lässt, desto wahrscheinlicher wird irgendwer auf die zündende Idee kommen. Und zur Not kann man es ja immer noch mit einer kleinen Laufrunde probieren, um die Kreativität anzuregen – am besten allein.

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