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Mäders Moralfragen: Warum die Weltbevölkerung wächst

Die meisten Menschen wünschen sich schon heute wenige, aber gut ausgebildete Kinder. Eine Ausnahme sind die Ärmsten der Armen, deren Kinder sterben. Wer ihnen hilft, tut zugleich etwas gegen das Bevölkerungswachstum und gegen den Klimawandel.
Menschenmassen

Die Weltbevölkerung wächst – und nicht wenige sehen darin ein Problem. Denn mehr Menschen bedeutet für sie automatisch mehr Ressourcenverbrauch und mehr Treibhausgase. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass Ende des Jahrhunderts rund elf Milliarden Menschen leben werden. Würde jede Frau im Durchschnitt ein halbes Kind weniger zur Welt bringen, wären es im Jahr 2100 hingegen nur etwa so viele wie heute: knapp unter acht Milliarden. Das Bevölkerungswachstum kann also die ökologischen Probleme verschärfen, sofern die zusätzlichen drei Milliarden Menschen unter denselben Bedingungen leben und versorgt werden müssen wie wir heute.

Doch die Menschen belasten die Umwelt in ganz unterschiedlichem Maß. Müll, Landverbrauch und Treibhausgase hängen nicht unbedingt an der Zahl der Menschen, sondern an ihrem Lebensstil. Die Bevölkerung in Afrika hat sich zum Beispiel seit 1990 etwa verdoppelt, doch ihr Anteil an der Verbrennung fossiler Rohstoffe ist währenddessen nur von drei auf vier Prozent gestiegen (die Zahlen stammen aus dem jüngsten Bericht der Internationalen Energie-Agentur IEA). Aus einem ähnlichen Grund ist auch die Studie, die jüngst von der Lehrerin Verena Brunschweiger ins Gespräch gebracht wurde, keine Argumentationshilfe: Demnach belastet jedes Kind die CO2-Bilanz seiner Eltern mit 58,6 Tonnen im Jahr zusätzlich.

Mein Kollege Christopher Schrader hat diese Studie auf »Spektrum.de« auseinandergenommen. Die Kurzfassung seiner Analyse: Die Studie rechnet Mutter und Vater jeweils die Hälfte der gesamten Emissionen aus der Lebenszeit des Kindes zu, außerdem jeweils ein Viertel der gesamten Emissionen aus der Lebenszeit der Enkel und jeweils ein Achtel der gesamten Emissionen aus der Lebenszeit der Urenkel. Wenn alle diese Nachkommen im Durchschnitt so viele Treibhausgase produzieren wie ein derzeitiger Bewohner eines Industrielands, dann kommt man auf einige tausend Tonnen Kohlendioxid, die den Eltern im Lauf ihres Lebens zugerechnet werden – eben jene 58,6 Tonnen im Jahr.

Es kommt auf den Lebensstil an

Man kann argumentieren, dass die Eltern diese Emissionen zu verantworten haben, weil sie sie verhindern können, indem sie sich gegen das Kind entscheiden. Doch dieses Argument dürfte die wenigsten überzeugen: Schließlich sind die Nachkommen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, selbst für ihr Leben verantwortlich. Und unsere Kinder und Enkel könnten sich für einen ganz anderen Lebensstil entscheiden als wir – die Generation #FridaysForFuture sagt bereits laut und deutlich, dass sie das will. Auch in dieser Argumentation des Kinderverzichts für den Klimaschutz spielt also die schiere Zahl der Menschen nicht die alleinige Rolle.

Trotzdem wird die Debatte über das Kinderkriegen emotional geführt. Das liegt natürlich daran, dass es sich um eine sehr persönliche Entscheidung handelt, die viele Erwachsene bereits für sich getroffen haben. Sie fühlen sich daher womöglich genötigt, sich für ihre Kinder zu rechtfertigen. Vielleicht spielt aber noch ein zweiter Punkt eine Rolle: Vielleicht ist die Gleichung »weniger Menschen gleich weniger ökologische Probleme« zu überzeugend, um sie gleich vom Tisch zu wischen. Wäre der Kampf gegen den Klimawandel nicht wenigstens ein bisschen einfacher, wenn die Bevölkerung nicht auch noch wachsen würde?

Hier macht der verstorbene Statistiker Hans Rosling in seinem postum erschienenen Buch »Factfulness« eine wichtige Anmerkung: Dass die Bevölkerung in diesem Jahrhundert wachsen wird, liegt nicht an den künftigen Kindern, sondern an den bereits geborenen. Die Fertilitätsrate ist in den vergangenen Jahrzehnten schon dramatisch gesunken und liegt weltweit bei 2,5 Kindern pro Frau. Derzeit gibt es rund zwei Milliarden Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren, und diese Zahl wird im Lauf des Jahrhunderts voraussichtlich nicht mehr steigen (in dieser Grafik der UN kann man das nachgucken, wenn man die Region »World« auswählt).

Rettet die armen Kinder!

Ich habe Roslings Buch in einer früheren Kolumne als zu optimistisch kritisiert, doch hier hat er einen validen Punkt. Wenn die Zahl der Kinder nicht steigt, dann wird auch das Bevölkerungswachstum aufhören, wenn die heutige Generation der Kinder herangewachsen ist. Rosling rechnet plakativ, aber anschaulich vor: Wenn es konstant zwei Milliarden Menschen zwischen 0 und 15 Jahren gibt, dann gibt es irgendwann auch zwei Milliarden zwischen 15 und 30, zwei Milliarden zwischen 30 und 45, zwei Milliarden zwischen 45 und 60 sowie zwei Milliarden zwischen 60 und 75 Jahren. Wenn sich die Lebenserwartung erhöht, zählt man vielleicht noch eine Milliarde Menschen im Alter von über 75 Jahren hinzu. So kommt man, ganz grob, auf die Prognose der elf Milliarden Menschen am Ende dieses Jahrhunderts.

Rosling macht noch einen zweiten Punkt: Die Reduktion von 2,5 Kindern pro Frau auf 2,0 Kinder pro Frau, die die Weltbevölkerung auf unser heutiges Niveau reduzieren würde, ist machbar. Sein Indiz: In der Weltbevölkerung, die mindestens vier US-Dollar am Tag verdient, liegt die Fertilitätsrate bereits bei zwei Kindern pro Frau. In seinem Buch setzt er hinter diese Feststellung ein »im Ernst!«. Mit vier Dollar am Tag kann man sich ein Fahrrad leisten und Lebensmittel kaufen. (Allerdings kann man in die extreme Armut abrutschen, wenn ein Angehöriger erkrankt und Medikamente benötigt.) Nur die Ärmsten der Armen, so Rosling, bekommen viele Kinder. »Sobald die Eltern aber sehen, dass die Kinder überleben, sobald die Kinder nicht mehr als Arbeitskräfte benötigt werden und sobald die Frauen eine gewisse Bildung haben und über Verhütungsmittel Bescheid wissen und Zugang zu diesen haben, werden Männer und Frauen kultur- und religionsübergreifend danach streben, weniger, aber dafür gut ausgebildete Kinder zu haben.«

In einem Video aus dem Jahr 2012 verdeutlicht Hans Rosling seine Empfehlung mit einfachen Grafiken: Die Kindersterblichkeit zu verringern, sei der beste Weg, das Bevölkerungswachstum drei Generationen später zu stoppen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar am Tag) deutlich zurückgegangen. 1999 zählten 1,7 Milliarden Menschen zu dieser Gruppe, 2013 waren es unter 800 Millionen, berichtet die UN. Ein beachtlicher Erfolg, doch wir hätten noch mehr tun können, und dann würden die Bevölkerungsprognosen heute anders aussehen. Gerade meldet die »Saarbrücker Zeitung«, dass bis zum Jahr 2030 etwa 56 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Mangelernährung und fehlender Gesundheitsversorgung sterben könnten. Es gibt also weiterhin viel zu tun – und hier gehen Armutsbekämpfung und Klimaschutz Hand in Hand.

Die Moral von der Geschichte: Die Gleichung »weniger Menschen gleich weniger ökologische Probleme« ist zu einfach, um in der Diskussion nützlich zu sein.

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