Die fabelhafte Welt der Mathematik: Nicht jede Länge ist messbar
In den letzten Jahren bin ich ziemlich oft umgezogen. Immer wieder musste ich dabei Räume oder Möbel ausmessen und prüfen, ob ich alles so einrichten kann, wie ich es geplant hatte. Wenn wir mit einem Maßband, Zollstock oder Lineal hantieren, hinterfragen wir nicht, ob das Objekt, das wir damit vermessen, überhaupt messbar ist. Solange etwas nicht unendlich ausgedehnt ist, sollte man diesem eine Länge, eine Fläche oder ein Volumen zuordnen können. Genau davon gingen auch Mathematiker bis ins späte 19. Jahrhundert aus. Doch dann sollte sich alles ändern.
Wollte man in der Vergangenheit geometrische Objekte vermessen, ging man so vor wie ich beim Umzug: Maßband raus, anlegen und los. Aber wenn man etwa die Fläche unterhalb einer komplizierten Kurve bestimmen will, gestaltet sich die Aufgabe schon schwieriger. Mit der Entwicklung der Analysis lieferten Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert neue Messinstrumente in Form von Integralen und Ableitungen, mit denen sich die Größe geometrischer Figuren präzise bestimmen ließ. Mehr als 200 Jahre lang stellte sich niemand mehr die Frage, wie man Objekte ausmessen sollte.
Als Ende des 19. Jahrhunderts Fachleute versuchten, die Mathematik in ein stabiles Fundament zu gießen, setzte sich die Mengenlehre als Grundpfeiler durch. Alles – von geometrischen Figuren über Zahlen bis hin zu komplexen Differentialgleichungen – lässt sich im Grunde auf elementare Mengen zurückführen. Wenn geometrische Formen aber nichts anderes als Mengen sind, dann muss man herausfinden, wie man abstrakte Mengen vermessen kann.
Nehmen wir etwa ein Intervall auf dem Zahlenstrahl zwischen 0 und 1, das als [0, 1] geschrieben wird. Wie wir wissen, enthält es unendlich viele reelle Zahlen (sogar überabzählbar viele!), aber mit einem Geodreieck kann man sich schnell überzeugen, dass die Länge einem Zentimeter entspricht (wenn man den Abstand entsprechend gewählt hat). Mathematiker rechnen gerne ohne Einheiten und definieren daher, dass das Intervall [0, 1] die Länge 1 hat. Analog dazu besitzt das Intervall [0, 2] die Länge 2 und so weiter.
Das haben die Fachleute natürlich nicht einfach so festgelegt, sondern nach bestimmten Regeln hergeleitet. Um diese Regeln aufzustellen, haben sie versucht, alle intuitiven Eigenschaften, die ein Maß wie die Länge, Fläche oder das Volumen haben sollte, zusammenzufassen: Das Maß der leeren Menge sollte null sein, das Maß eines Objekts ändert sich nicht, wenn man das Objekt verschiebt, und das Maß von sich nicht überlappenden Objekten entspricht der Summe der Maße der einzelnen Objekte. Aus diesen drei simplen Folgerungen lassen sich verschiedene Maße definieren, unter anderem das oben genannte Längenmaß, das unserer Intuition entspricht.
Das Vorgehen mag ziemlich umständlich erscheinen: Schließlich erhält man dadurch bloß ein Ergebnis, das man bereits intuitiv kannte. Allerdings ermöglicht diese abstrakte Definition eines Maßes, nun auch Mengen zu vermessen – und zwar auch Mengen, für die eine geometrische Anschauung fehlt.
Ein Maß für abstrakte Mengen
Als sich Mathematiker erstmals mit den Maßen beschäftigten, untersuchten sie zunächst Funktionen. Um die Fläche unterhalb eines Bereichs einer Funktion zu bestimmen, muss man sie integrieren – das lernt man in der gymnasialen Oberstufe. Doch was passiert, wenn die Funktion extrem kompliziert ist? Betrachtet man etwa die zerstückelte »Dirichlet-Funktion«, kommt man mit dem gewöhnlichen Integralbegriff nicht sonderlich weit.
Die Dirichlet-Funktion χ(x) hat den Wert 1, falls x eine rationale Zahl ist, und ist sonst immer null. Das heißt, der Graph von χ(x) besteht aus unendlich vielen Punkten entlang der Geraden y = 1 und y = 0. Da der Graph der Funktion nur aus einzelnen, unzusammenhängenden Punkten besteht, ist es unmöglich, das »Riemann-Integral« zu bilden. Damit ist das Integral gemeint, wie es in der Schule gelehrt wird: Man bildet Ober- und Untersummen, um die Fläche unterhalb einer Kurve zu bestimmen.
Um also die Fläche bestimmen zu können, führte der Mathematiker Henri Lebesgue 1902 eine neue Form des Integrals ein, das nach ihm benannte Lebesgue-Integral. Anschaulich gesprochen unterteilt man in diesem Fall nicht die x-Achse in kleine Intervalle, wie es mit den Ober- und Untersummen sonst üblich ist, sondern die y-Achse. Um damit eine Fläche zu berechnen, muss man die Breite der zugehörigen Intervalle auf der x-Achse bestimmen. Für alle gewöhnlichen Funktionen, die nicht derart zerstückelt wie die Dirichlet-Funktion sind, liefern das Lebesgue-Integral und das uns bekannte Riemann-Integral genau dasselbe Ergebnis. Doch der Vorteil des Lebesgue-Integrals besteht darin, dass es auch komplizierteren Fällen einen Flächeninhalt zuordnen kann.
Um den Flächeninhalt unterhalb der Dirichlet-Funktion im Intervall [0, 1] zu bestimmen, muss man also zunächst die y-Achse in kleine Abschnitte unterteilen. Da die Punkte der Funktion nur bei y = 0 bei irrationalen x oder y = 1 bei rationalen x liegen, lautet das Ergebnis: 0 mal der Länge aller irrationalen Zahlen im Bereich [0, 1] plus 1 mal der Länge aller rationalen Zahlen in [0, 1].
An dieser Stelle braucht man nun die Maßtheorie, um den abstrakten Mengen eine Länge zuzuordnen: den irrationalen Zahlen zwischen [0, 1] auf der einen und den rationalen zwischen [0, 1] auf der anderen Seite. Da es nur abzählbar viele rationale Zahlen gibt, ist deren Maß null (für Neugierige: siehe Erklärung unten). Das Maß der restlichen, irrationalen Zahlen zwischen [0, 1] muss daher 1 ergeben (da alle reellen Zahlen zwischen [0, 1] zusammen das Maß 1 haben). Der Flächeninhalt unterhalb der Dirichlet-Funktion zwischen null und 1 ergibt also 1·0 + 0·1 = 0.
Das Maßproblem taucht erstmals auf
Mit dem Lebesgue-Integral entstand 1902 das so genannte Maßproblem. Fachleute fragten sich, ob man jeder Menge ein Maß zuordnen kann. Und schon drei Jahre später fand der Mathematiker Giuseppe Vitali darauf eine ernüchternde Antwort: Nein, es gibt Mengen, die so zerklüftet sind, dass sie sich nicht vermessen lassen.
Vitali kam zu dieser Erkenntnis, als er eine konkrete Menge konstruierte, für die jede Art von Maß versagt: die nach ihm benannte Vitali-Menge. Er fing zunächst einfach an und betrachtete die Menge aller Zahlen zwischen 0 und 1. Dann unterteilte er diese Menge in verschiedene Bereiche: Zwei Zahlen a und b landen im selben Bereich, falls a − b eine rationale Zahl ergibt. So sind beispielsweise alle natürlichen Zahlen und alle rationalen Zahlen im gleichen Bereich. In einer anderen Region befinden sich hingegen 0,2+√0,2 und 0,3+√0,2 und so weiter. Damit hat Vitali das Intervall [0, 1] in (überabzählbar) unendlich viele kleine Teile zerstückelt.
Als nächsten Schritt wählte er aus jedem dieser Bereiche exakt einen Repräsentanten r aus und fügte all diese Repräsentanten in eine neue Menge V ein. Die Menge V enthält also überabzählbar viele Elemente, da es überabzählbar unendlich viele Unterteilungen des Intervalls [0, 1] gibt. Und nun griff Vitali zu einem Trick: Er untersuchte, was passiert, wenn man die Menge V um eine rationale Zahl p, die einen Wert zwischen [-1, 1] annimmt, verschiebt: Vp = V + p. Das hat zur Folge, dass man zu jedem Element r in V die rationale Zahl p addiert. Auf diese Weise erzeugte Vitali (abzählbar) unendlich viele Mengen Vp, die Zahlen zwischen [-1, 2] enthalten. Der Grund dafür ist, dass V Zahlen zwischen [0, 1] abdeckt und durch p Werte aus dem Intervall [-1, 1] hinzukommen.
Das ist alles ziemlich technisch, aber keine Angst, wir sind fast am Ziel! Die Vitali-Menge V* enthält alle Vp – und wie wir sehen werden, sprengt sie das Konzept der Maßtheorie. Wir wissen, dass das Maß von V* mindestens so groß ist wie das Maß des Intervalls [0, 1] (denn V* ist mindestens so groß wie V, das eine Spannweite von 0 bis 1 hatte). Andererseits ist die Vitali-Menge kleiner oder gleich dem Intervall [-1, 2]. Das heißt: μ([0, 1]) = 1 ≤ μ(V*) ≤ μ([-1, 2]) = 3. Demnach muss die Vitali-Menge ein Maß zwischen 1 und 3 haben.
Nun kann man das Maß der Vitali-Menge aber auch direkt berechnen: μ(V*) = ∑pμ(Vp), da es nur abzählbar viele p gibt. Die Menge Vp enthält aber überabzählbar viele Elemente zwischen [p, 1+p], so dass μ(Vp) eine endliche Zahl größer null ist. Und tatsächlich sind alle Vp gleich groß – unterschiedliche Werte von p stellen ja nur eine Verschiebung dar, die für das Maß einer Menge keine Rolle spielt. Das heißt μ(Vp) = μ(V). Demnach ist das Maß der Vitali-Menge μ(V*) = ∑pμ(V), also eine Konstante μ(V), die unendlich oft summiert wird. Das Ergebnis einer solchen Berechnung ist immer unendlich – egal, wie klein die Konstante μ(V) ist. Das heißt: μ(V*) = ∞, was im Widerspruch zur obigen Ungleichung 1 ≤ μ(V*) ≤ 3 steht.
Es wird immer nichtmessbare Mengen geben
Das überraschende Ergebnis geht nicht darauf zurück, dass wir etwas falsch gemacht haben. Tatsächlich ist die Vitali-Menge so komplex, dass man ihr kein Maß zuordnen kann. Damit hatte Vitali bewiesen, dass nicht alle Mengen messbar sind, es gibt auch »nichtmessbare« Mengen.
Das Ergebnis an sich ist schon erstaunlich: Schließlich ist die Vitali-Menge beschränkt und enthält nur reelle Werte – und trotzdem ist sie nicht messbar. Wenn man dieses Ergebnis auf zweidimensionale Mengen überträgt, ergeben sich noch seltsamere Ergebnisse: So kann man beispielsweise durch geschickte Zerlegungen in nichtmessbare Mengen die Oberfläche einer Kugel verdoppeln.
Glücklicherweise sind nichtmessbare Mengen extrem selten. In der Physik tauchen sie zum Beispiel nicht auf – schließlich sind Zerlegungen von Objekten spätestens durch die Größe von Atomen beschränkt. Man muss nichtmessbare Mengen schon extra konstruieren, um auf sie zu stoßen. Und doch sind sie allgegenwärtig: Bereits in einfachen Zahlenintervallen lauern nichtmessbare Ausschnitte. Wie sich herausstellt, ist es gar nicht so einfach, solche Mengen loszuwerden. Man müsste die Axiome und somit das Fundament der Mathematik verändern, um das Auftauchen nichtmessbarer Mengen zu verhindern.
Erratum: In einer früheren Version des Artikels hat sich ein Fehler eingeschlichen: Als Beispiel wurde die Zahl 2 + √2 herangezogen, um die Unterteilung eines Intervalls von [0, 1] zu veranschaulichen – obwohl die Zahl 2 + √2 nicht in der betrachteten Menge liegt.
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