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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Mathe-Durchbrüche hinter Gittern

Manche der größten Ideen der Mathematik entstanden nicht in Elite-Unis, sondern im Gefängnis. Diese vier Geschichten zeigen, wie Gefangenschaft nicht nur die Betroffenen, sondern auch ein ganzes Fach prägt.
Ein langer, leerer Gefängnisflur mit Zellenreihen auf beiden Seiten. Die Zellen sind durch Gitterstäbe verschlossen, und das Licht fällt durch die Gitter, wodurch ein Muster auf dem Boden entsteht. Die Perspektive des Fotos betont die Tiefe des Flurs.
In Gefangenschaft sind die Gedanken weiterhin frei.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen; viele davon können Sie auch im Podcast »Geschichten aus der Mathematik« hören.

Vor Kurzem habe ich mich mit einer jungen Forscherin über ihren unglaublichen Weg zur Mathematik unterhalten. Kurz nachdem Mura Yakerson im Jahr 2014 ihren Führerschein bekommen hatte, holte sie eine Freundin mit dem Auto vom Bahnhof ab. Es war eine ruhige Gegend in der Nähe von Sankt Petersburg, draußen auf dem Land, wo es nicht zu viel Verkehr gibt. Ideal zum Üben. Doch wie sie später von der Polizei erfuhr, muss beim Ausparken etwas schiefgelaufen sein – Yakerson beschädigte unbemerkt ein anderes Auto. Das entpuppte sich als Beginn eines Albtraums.

Da sie sich vom Unfallort entfernt hatte, musste sich die junge Studentin wenig später vor Gericht wegen Fahrerflucht verantworten. Der Richter stellte sie vor die Wahl: ein einjähriges Fahrverbot oder drei Tage Haft. Yakerson zögerte nicht lange und entschied sich für die Haft. Sie hoffte, dort endlich Zeit zu finden, sich ohne Ablenkung einem mathematischen Paper für ihr Studium zu widmen.

Doch die drei Tage gestalteten sich völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie konnte nicht die Energie aufbringen, um sich wie gewünscht in das Thema zu vertiefen. Stattdessen lenkte sie sich mit Tagträumen ab: Sie malte sich aus, wie es wäre, ihre Doktorarbeit bei dem Autor des Papers zu machen, dem Professor Marc Levine, der in Essen lehrte – und zwar genau zu dem Thema dieses Papers, dem einzigen Gegenstand, den sie mit ins Gefängnis genommen hatte. Dieser Gedanke half ihr, die unangenehme Zeit durchzustehen.

»Ohne diese Erfahrung hätte ich mich auf ganz viele Doktorandenstellen beworben«, erklärt Yakerson. »Aber so schickte ich nur eine einzige Bewerbung raus. Und ich nahm mir vor, diese Geschichte erst nach Abschluss meiner Doktorarbeit mit Levine zu teilen.« Tatsächlich wurde ihr Traum Realität: Sie bekam die Stelle bei Levine, promovierte zu dem gewünschten Thema und erzählte ihre außergewöhnliche Geschichte erst nach der Verteidigung ihrer Arbeit Levine und seinem Team.

Wer weiß, wie Yakersons Leben ohne diesen kurzen, aber eindrucksvollen Gefängnisaufenthalt verlaufen wäre? Noch heute forscht sie an den Themen aus dem Paper, das sie mit in ihre karge Zelle genommen hatte. 

»Es gibt keinen Ort, der einem Menschen das Glück nehmen kann, noch seine Tugend oder Weisheit«Plutarch, antiker Schriftsteller

Mit dieser Erfahrung ist sie nicht allein. In der Vergangenheit haben einige namhafte Mathematiker Erfahrungen im Gefängnis gesammelt – und dort teilweise ihre wichtigsten Arbeiten verfasst. Ob es nun der Mangel an Ablenkung, die vollständige Isolation oder die Flucht vor der Realität ist: Das Gefängnis scheint eine Inspirationsquelle für die mathematische Forschung zu sein. Das erkannte schon der antike griechische Schriftsteller Plutarch, der über den Gelehrten Anaxagoras schrieb: »Es gibt keinen Ort, der einem Menschen das Glück nehmen kann noch seine Tugend oder Weisheit. Anaxagoras schrieb in der Tat im Gefängnis über die Quadratur des Kreises.«

Anaxagoras von Clazomanae: standhafter Ketzer

Im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung weigerte sich der Philosoph Anaxagoras, die Sonne als Gottheit anzuerkennen. Stattdessen erklärte er, dass auch der Mond leuchte, weil er das Licht der Sonne zurückwerfe. Für diese ketzerischen Aussagen musste Anaxagoras ins Gefängnis – und entging der Todesstrafe nur, weil er gute Beziehungen zu Perikles hatte, einem wichtigen Staatsmann von Athen.

Um sich die Zeit in Haft zu vertreiben, war Anaxagoras offenbar der erste Mensch, der sich nachweislich mit der Quadratur des Kreises beschäftigte. Mit nicht mehr als einer Schnur, einem unmarkierten Lineal und einem Stift wollte er es schaffen, aus einem Kreis ein Quadrat mit gleichem Flächeninhalt zu konstruieren.

Quadratur des Kreises | Aus einem Kreis lässt sich ein Quadrat gleicher Fläche konstruieren – doch dafür ist man auf mehr Hilfsmittel angewiesen als bloß ein Zirkel und ein nichtmarkiertes Lineal.

Doch er scheiterte. Und wie sich mehr als 2000 Jahre später herausstellte, konnte es gar nicht anders sein. Denn im 19. Jahrhundert fanden Mathematiker heraus, dass die Quadratur des Kreises unmöglich ist – zumindest, wenn man allein auf Lineal und Zirkel als Hilfsmittel zurückgreift. Dieser Beweis gelang durch eine mathematische Theorie, die Évariste Galois entwickelte, der übrigens auch im Gefängnis einsaß, weil er einen Trinkspruch auf den Tod des französischen Königs aussprach.

Tibor Radó: Flucht in die Unendlichkeit

Der gebürtige Ungar Tibor Radó begann im frühen 20. Jahrhundert ein Ingenieurstudium, das er jedoch nach kurzer Zeit abbrechen musste, weil der Erste Weltkrieg ausbrach. Er ging als Soldat an die russische Front und kam im Jahr 1916 in ein sibirisches Kriegsgefangenenlager. Dort lernte er den ebenfalls inhaftierten österreichischen Mathematiker Eduard Helly kennen.

Während der mehrjährigen Gefangenschaft führte Helly den wissbegierigen Radó in die Grundlagen der mathematischen Forschung ein. Während der Tumulte durch die Weiße Armee im Jahr 1919 gelang es Radó, aus dem Gefangenenlager zu flüchten und sich zu Fuß durch Sibirien zu kämpfen. Mehr als 1000 Kilometer legte der junge Mann bis zu seiner Heimat Ungarn zurück, die er schließlich 1920 erreichte.

Dort nahm er sein Studium wieder auf – dieses Mal entschied er sich allerdings für Mathematik, für das Helly in begeistert hatte und mit dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1943 engen Kontakt pflegte.

Im Lauf seiner Karriere beschäftigte sich Radó mit den Grenzen der Mathematik. Ihm gelang es, Zahlen und Funktionen zu konstruieren, die »nichtberechenbar« sind. Das heißt: Selbst die leistungsfähigsten Supercomputer werden die von Radó definierten Größen niemals exakt kalkulieren können – nicht einmal, wenn ihnen unendlich viel Zeit zur Verfügung stünde.

André Weil: pazifistischer Grenzgänger

Als in den 1930er Jahren weltweit die geopolitischen Spannungen zunahmen, wollte der überzeugte Pazifist und Mathematiker Weil dem französischen Militärdienst entgehen – und wanderte daher in die USA aus. Doch Weil befand sich gerade auf Forschungsreise in Finnland, als im Jahr 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach. Kurz darauf wurde er wegen des Verdachts auf Spionage festgenommen, nachdem die finnischen Behörden verdächtige Schriften bei ihm fanden.

»Die Manuskripte, die sie fanden, erschienen verdächtig – wie die von Sophus Lie, der 1870 in Paris wegen Spionage verhaftet wurde«, erinnerte sich Weil später. »Außerdem fanden sie in einem Schrank mehrere Rollen mit stenografisch beschriebenem Papier. Als ich sagte, dass es sich dabei um den Text eines Balzac-Romans handelte, muss diese Erklärung sehr weit hergeholt geschienen haben. Es gab auch einen Brief in russischer Sprache, von Lev Pontryagin, glaube ich, als Antwort auf eine Zuschrift, die ich zu Beginn des Sommers verfasst hatte und in dem es um einen möglichen Besuch in Leningrad ging.«

Weils Rosetta-Stein | Der Mathematiker André Weil träumte von einer Brücke, die Zahlentheorie, Algebra und Geometrie miteinander verbindet.

Glücklicherweise konnte der angesehene finnische Mathematiker Rolf Nevanlinna die Behörden davon überzeugen, Weil nach Schweden zu deportieren. Von dort aus wurde er über Großbritannien nach Frankreich ausgeliefert, wo er wieder ins Gefängnis musste, weil er sich dem Wehrdienst entzogen hatte. Während dieser Gefangenschaft in Rouen entwickelte Weil eines der ehrgeizigsten Programme der Mathematik, an dem Fachleute bis heute arbeiten: eine Art Rosetta-Stein, der völlig verschiedene anmutende Bereiche (Zahlentheorie, Algebra und Geometrie) miteinander verbindet.

Mathematik im Gefängnis zur heutigen Zeit

Die vier geschilderten Geschichten sind nur wenige Beispiele von vielen, bei denen Menschen im Gefängnis entweder zur Mathematik fanden oder dort wichtige wissenschaftliche Entdeckungen gemacht haben. Eine besonders eindrückliche Geschichte habe ich in einer vergangenen Kolumne geschildert: der verurteilte Mörder Christopher Havens, der das Prison Mathematics Project, kurz PMP, gegründet hat. Ziel dieses Projekts ist es, Inhaftierten in den USA mathematische Forschung zugänglich zu machen.

Denn wie Havens schmerzlich feststellen musste, ist es extrem schwierig, im Gefängnis auf Fachinhalte zuzugreifen. Die Gefängnisbibliotheken sind in der Regel nur dürftig ausgestattet und Insassen haben keinen Zugang zum Internet.

Das PMP umfasst unter anderem ein Mentorenprogramm, bei dem sich interessierte Inhaftierte mit Mathematikerinnen und Mathematikern austauschen können – und das mit Erfolg: Tatsächlich konnte einige Insassen durch dieses Projekt bereits erste Fachpublikationen veröffentlichen. Ich bin gespannt zu sehen, welche mathematischen Durchbrüche das PMP noch hervorbringen wird.

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