Direkt zum Inhalt

Freistetters Formelwelt: Mathematik ist menschlich

Mathematik ist abstrakt und dennoch eine menschliche Leistung. Selbst wenn es darum geht, unseren Körper zu erforschen, kommen wir nicht ohne sie aus.
Mensch, DNA, KI …

Anfang 2019 hielt ich einen Workshop in Graz. Ich kam dabei auch am Institut für Bioinformatik der Technischen Universität vorbei und entdeckte dort vor dem Eingang eine Tafel mit einigen Formeln. Darunter diese hier:

Michaelis-Menten-Gleichung

Ich musste ein wenig recherchieren, um herauszufinden, worum es sich dabei handelt. Es ist die so genannte Michaelis-Menten-Gleichung, benannt nach dem deutsch-amerikanischen Biochemiker Leonor Michaelis und der kanadischen Medizinerin Maud Menten. Die beiden haben sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Enzymkinetik beschäftigt, also der Frage, wie schnell chemische Reaktionen ablaufen, bei denen Enzyme eine Rolle als Katalysator spielen.

Sie untersuchten unter anderem die Invertase, ein Enzym, das normalen Haushaltszucker in Frucht- und Traubenzucker aufspalten kann. Die Invertase kommt beispielsweise zum Einsatz, wenn Bienen aus Nektar Honig erzeugen. Ebenso findet sie sich in Pflanzen, Pilzen und Bakterien – unter anderem in denen, die in unserem Verdauungstrakt leben. Enzymatische Reaktionen spielen aber auch überall sonst im Stoffwechsel von Lebewesen eine zentrale Rolle, etwa bei der Fotosynthese oder der Replikation von DNA. Sie zu verstehen, ist daher von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Biologie.

Vereinfacht gesagt bindet sich ein Enzym zuerst an ein Substrat, also den Stoff, der bei einer Reaktion umgesetzt wird. Wenn beide aneinander gebunden sind, wird das Substrat umgewandelt und das Reaktionsprodukt spaltet sich wieder vom Enzym ab. Wie schnell so eine Reaktion abläuft, hängt unter anderem von der Konzentration des Substrats ab. Enzyme können schwankende Konzentrationen ausgleichen und ein Fließgleichgewicht erzeugen. Ist dadurch die Konzentration der Enzym-Substrat-Verbindung für längere Zeitskalen konstant, gilt die Gleichung von Michaelis und Menten.

Die Reaktionsgeschwindigkeit iv hängt dann, wie oben beschrieben, von der theoretisch möglichen Maximalgeschwindigkeit, der Konzentration des Substrats ic(S) und der so genannten Michaeliskonstante iKm ab, die wiederum für jede enzymatische Reaktion unterschiedlich ist.

Auf der Tafel vor der Universität standen noch einige andere Gleichungen, für deren Verständnis mein Wissen über die Biochemie leider nicht mehr ausreicht. Ich habe mich trotzdem sehr über diesen unerwarteten Auftritt der Mathematik gefreut. Denn die Gleichungen – beziehungsweise auch die Existenz des Instituts für Bioinformatik an sich – zeigen, dass die Mathematik bei Weitem keine Disziplin für weltfremde Spezialisten ist, die nur über Dreiecke, Primzahlen und Gleichungen mit Unbekannten nachdenken. Sie ist wesentlich mehr als das Klischeebild, das uns immer noch viel zu oft im Kopf herumgeistert; sie ist mehr als die schlechten Erinnerungen an langweiligen Schulunterricht und mehr als das Auswendiglernen von Multiplikationstabellen. Die Mathematik ist das Werkzeug, mit dem wir verstehen, wie die Welt funktioniert.

Die Gleichungen von Maud Menten und Leonor Michaelis demonstrieren, dass sich auch die fundamentalen Prozesse des Lebens selbst durch mathematische Formeln beschreiben lassen. Es mag ein weiter gedanklicher Sprung von der biologischen Forschung des letzten Jahrhunderts zu den aktuellen Träumen von künstlicher Intelligenz der Gegenwart sein. Aber wenn es uns in Zukunft gelingen sollte, nichtbiologisches Leben zu erschaffen, dann wird es wie das biologische Leben zweifellos mathematischen Regeln folgen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.