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Freistetters Formelwelt: Forschung über jegliche Grenzen hinweg

Mathematische Forschungsergebnisse sind das eine. Was man aber nicht vergessen darf, ist die Kommunikation.
Köpfe

Der mathematische Fachartikel »Théorie des groupes fuchsiens« von Henri Poincaré beginnt nach ein paar einleitenden Worten mit dieser Formel:

Die Gleichung ist nicht weiter außergewöhnlich; es handelt sich um eine simple Funktion t, die von der imaginären Zahl z und ein paar Parametern abhängt. Sie diente Poincaré als Ausgangspunkt, um seine Theorie der fuchsschen Gruppen zu entwickeln. Die sind in bestimmten Bereichen der Mathematik durchaus von Bedeutung. Mich interessiert aber ausnahmsweise nicht die Formel, sondern der Ort, an dem sie geschrieben steht. Poincarés Text ist der erste Artikel, der in der ersten Ausgabe der Fachzeitschrift »Acta Mathematica« aus dem Jahr 1882 zu finden ist.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

»Acta Mathematica« ist nicht das älteste mathematische Journal der Welt, für viele Forscherinnen und Forscher allerdings das mit dem größten Ansehen. Doch auf jeden Fall hat die Zeitschrift sehr bedeutende Entwicklungen in der Geschichte der Mathematik mitgemacht. Gegründet wurde sie vom Schweden Magnus Gösta Mittag-Leffler. Neben seinen durchaus wichtigen Erkenntnissen in der mathematischen Forschung hatte er auch besondere Vernetzungsfähigkeiten, für die er heute vor allem bekannt ist. Er studierte sowohl in Paris als auch in Berlin – und zwar kurz nach Ende des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71. Dabei lernte er nicht nur die führenden Mathematiker beider Nationen kennen, sondern entwickelte auch eine Ablehnung gegen nationalistische Isolation. Unter anderem deswegen gründete er 1882 die »Acta Mathematica«: Er wollte eine Kommunikation über Ländergrenzen hinweg ermöglichen.

Ein Magazin für Frieden und Gleichberechtigung

Schon das Titelblatt ist zweisprachig, ebenso ist das Vorwort in Französisch und Deutsch abgefasst. Das Muster setzt sich fort: Auf Henri Poincarés Artikel (in Französisch) folgt ein Text auf Deutsch, der aber von einem schwedischen Mathematiker verfasst wurde, und im Rest des ersten Bands wechseln sich die Sprachen immer wieder ab. Von Anfang an veröffentlichten die führenden Forscher aus Frankreich (Poincaré, Hermite und so weiter) und aus Deutschland (etwa Georg Cantor) gemeinsam mit Mathematikern aus Skandinavien. Und auch Mathematikerinnen waren vertreten: In Band 4 aus dem Jahr 1884 erschien auch ein Artikel der Russin Sofja Kowalewskaja. Als Frau war es ihr damals fast unmöglich, eine Anstellung an einer Universität zu bekommen. Mittag-Leffler (so wie Kowalewskaja ein ehemaliger Schüler des Berliner Mathematikers Karl Weierstraß) hatte sich schon länger bemüht, sie auf eine Professur an der Universität von Stockholm zu holen; was 1884 gelang. Zuvor wurde sie aber Mitherausgeberin der »Acta Mathematica« und damit die erste Frau, die eine solche Rolle im wissenschaftlichen Publikationswesen innehatte.

Aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte ist auch die Ausgabe 13 der »Acta Mathematica« äußerst spannend. Sie besteht im Wesentlichen komplett aus einer Arbeit von Henri Poincaré. Darin beschäftigt er sich mit der Frage nach der Lösung des n-Körper-Problems: der Suche nach einer Formel, mit der sich für jeden beliebigen Zeitpunkt Ort und Geschwindigkeit von Objekten angeben lassen, die sich gegenseitig gravitativ anziehen. Oder vereinfacht gesagt: eine Gleichung, die für beliebige Zeitpunkte in der Zukunft vorhersagen kann, wo sich die Himmelskörper befinden. Ausgangspunkt der Arbeit war ein mathematischer Wettbewerb, der vom schwedischen König ausgerufen worden war. Poincaré dachte, die Antwort gefunden zu haben. Die entsprechende Ausgabe der »Acta Mathematica« war schon gedruckt, als ein wirklich schwerer Fehler entdeckt wurde. Poincaré bezahlte den Druck einer völlig neuen Ausgabe aus eigener Tasche und veröffentlichte dort seine korrigierte Arbeit. Die löste zwar die gestellte Aufgabe nicht, legte aber die Grundlage für die moderne Chaostheorie.

Heute kommuniziert die Fachwelt meistens elektronisch, die »Acta Mathematica« aber erscheint immer noch; vor Kurzem wurde Ausgabe 229 veröffentlicht.

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