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Freistetters Formelwelt: Wenn Mathematik zu schön ist, um wahr zu sein

Der »Traum der Sophomores« ist eine elegante, kurze und bündige Gleichung. Doch wenn man sie konkret berechnen möchte, wird sie zum regelrechten Albtraum.
Ein Einhorn auf einer Wiese mit einem Regenbogen
Manche Gleichungen scheinen viel zu einfach, um korrekt zu sein.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Im Jahr 1697 hat der vielseitige Schweizer Mathematiker Johann Bernoulli eine Gleichung entdeckt, die inzwischen als »Traum der Sophomores« bezeichnet wird: 

01xxdx=n=1nn

Auch wenn man keine Ahnung von Mathematik hat, springt die Symmetrie der Symbole sofort ins Auge. Auf der linken Seite steht ein Integral, auf der rechten Seite eine Summe und beide sind identisch. Bernoulli ist darauf gestoßen, als er sich mit der Infinitesimalrechnung beschäftigte. Diese Disziplin war Ende des 17. Jahrhunderts gerade erst von Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton entwickelt worden. Publiziert wurden sie allerdings erst im 18. Jahrhundert, Bernoulli musste sich bei seinen Studien also auf die Grundlagen stützen, die Leibniz veröffentlicht hatte. Dass es zwischen Integralen und Summen einen Zusammenhang gibt, liegt auf der Hand. Die Integration entstand aus der Berechnung von Flächeninhalten und aus dem Versuch, diese durch die Summierung immer kleinerer Teilflächen anzunähern.

Die Identität zwischen Integral und Summe, die Bernoulli entdeckt hat, sieht trotzdem auf den ersten Blick zu gut aus, um wahr zu sein. Aber sie ist es tatsächlich, wie sich leicht beweisen lässt, wenn man die Funktion unter dem Integral mittels Taylorreihen darstellt und alles entsprechend umformt.

Den Namen »Traum der Sophomores« hat die Gleichung erst viele Jahre nach Bernoulli bekommen, in Anspielung auf eine andere Formel. Die - nicht korrekte - Gleichung (x+y)n = xn + yn wird oft als »Freshman’s dream« bezeichnet. Studienanfänger (die im US-amerikanischen Sprachraum Freshmen heißen) machen diesen Fehler häufig, weil ihnen nicht bewusst ist, dass sich die Potenzfunktion nicht auf so einfache Weise auf Summen anwenden lässt. Der Traum der Erstsemester funktioniert in der Realität also nicht, die Studierenden im zweiten Jahr, die »Sophomores«, dagegen haben mit Bernoullis Gleichung ein wirklich traumhaftes Ergebnis.

Bernoulli hat übrigens noch eine zweite Identität dieser Form gefunden, die aber für meinen Geschmack nicht mehr ganz so elegant und symmetrisch ist: Das Integral in den Grenzen von 0 bis 1 über xx entspricht der negativen unendlichen Summe über -n-n. Auch hier lässt sich der Beweis leicht mit Taylorreihen führen.

Ein Computer rechnet 240 Stunden lang

Allerdings lässt sich der numerische Wert beider Traumgleichungen nicht exakt bestimmen. Mit entsprechenden Näherungsverfahren sieht man aber, dass das Ergebnis im ersten Fall 1,291285997… betragen muss und 0,7834305107… für den zweiten Fall. Wer es noch genauer wissen will: Der deutsche Mathematiker Max Grossmann von der Universität Köln hat im Jahr 2017 eine Million Nachkommastellen der ersten Konstante berechnet. Um das zu erreichen, musste er die unendliche Summe für 190 500 Terme auswerten. Für die Berechnung brauchte sein Computer 240 Stunden, also gut zehn Tage.

Grossmann nennt in seinem Blog übrigens eine andere Begründung für die Bezeichnung: »Die Konstante wird Sophomores Dream genannt, weil junge Mathematikstudierende, wenn sie ihr zum ersten Mal begegnen, oft enttäuscht sind: Trotz ihrer schönen und einfachen Definition gibt es weder eine einfache Rechenvorschrift noch eine geschlossene Form. Tatsächlich gehört sie zu den am schwierigsten berechenbaren, allgemein bekannten mathematischen Konstanten.«

Der schöne symmetrische Traum der eleganten Formel wird also zu einem numerischen Alptraum, wenn man wissen will, welche konkreten Zahlen hinter den mathematischen Symbolen stecken. Aber auch das ist irgendwie passend. Denn die Realität kann nie so schön sein wie ein Traum. Schon gar nicht in der Mathematik.

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