Direkt zum Inhalt

Kommentar: Medizin und Machtmissbrauch

Gleich drei Skandale brachten 2019 medizinische Forschungseinrichtungen in die Schlagzeilen. Hat die Hochschulmedizin ein strukturelles Problem?
Klinikdirektor

Den Anfang machte Heidelberg: Im März 2019 erschütterte die Präsentation eines höchst umstrittenen Bluttests für Brustkrebs das Universitätsklinikum. Gegen Christof Sohn, Chef der Heidelberger Universitätsfrauenklinik, wurde deshalb später ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Im Juli folgte München. Die Max-Planck-Gesellschaft entließ den Klinikdirektor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Psychiatrie, Martin Keck – fristlos.

Zuletzt, im September 2019, fiel das Schlaglicht auf Tübingen: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) teilte mit, dass sie den international anerkannten Hirnforscher Niels Birbaumer für fünf Jahre als Antragsteller und Gutachter gesperrt habe. Gegen Birbaumer hatte es zuvor Vorwürfe der Datenmanipulation gegeben.

Drei Skandale, ein Muster?

Drei Fälle. Allesamt gelangten sie 2019 in die bundesweiten Schlagzeilen. Zwei der Professoren sind Mediziner, der dritte, Birbaumer, ist Neurophysiologe und war viele Jahre lang an einer Medizinischen Fakultät. Alle drei sind Männer. Keiner von ihnen ist jünger als 50.

Alles nur ein Zufall? Ein Fall von selektiver Wahrnehmung? Oder lässt sich hier womöglich ein gemeinsames Muster erkennen? Was sagen solche Beispiele über das System Medizin und speziell die Hochschulmedizin aus?

Eigentlich nichts, sagt Heyo Kroemer. Der 59-Jährige ist seit Anfang September Chef der Charité Universitätsmedizin. »Die Menschen, die in der Universitätsmedizin arbeiten«, erklärt er, »sind genauso wie in allen anderen Organisationen, da gibt es keine Unterschiede.« Kroemer selbst ist übrigens nicht Mediziner, sondern Pharmazeut und Pharmakologe.

Wissenschaft trifft Ökonomie

Dass das System Hochschulmedizin sich von anderen unterscheidet, das sieht allerdings auch Kroemer so. Er sagt: »Was es tatsächlich nur in der Medizin gibt, ist die einzigartige Verbindung von Wissenschaft und einem großen wirtschaftlichen Betrieb, dem Klinikum.« Und weiter: »Ich kenne keine Ingenieurfakultät, die ihre eigene Autofabrik betreibt.« Für Kroemer führt diese Besonderheit zu einem einzigartigen Kostendruck, unter dem die Hochschulmedizin steht.

Dieser Kostendruck ist Ausdruck eines weiteren Phänomens: Verglichen mit anderen akademischen Fächern geht es in der Medizin um außerordentlich viel Geld. Die Hochschulen in Deutschland hatten 2017 Einnahmen in Höhe von 54 Milliarden Euro. 18 Milliarden, ein Drittel davon, ging auf das Konto der Universitätskliniken. 2018 haben die Deutschen laut Statistischem Bundesamt mehr als eine Milliarde Euro für ihre Gesundheit ausgegeben – pro Tag.

Geld ist in unserer Gesellschaft eng mit Macht verbunden. Und dort, wo sich Geld und Macht konzentrieren, etwa an der Spitze von Unternehmen, ist bis heute normalerweise auch der Männeranteil besonders hoch. Dabei hat sich das Gesicht der Medizin längst gewandelt, zwei Drittel der angehenden Ärzte sind inzwischen Frauen. Noch 2002 lag ihr Anteil bei knapp der Hälfte.

In den Führungsetagen der medizinischen Forschungseinrichtungen, der Kliniken und Hochschulen ist dieser Wandel bisher jedoch nicht angekommen. 2018 war nur rund ein Fünftel der Medizinprofessuren mit Frauen besetzt.

Nun wird niemand behaupten, dass man in der medizinischen Forschung, selbst wenn man ganz oben in der Hierarchie steht, automatisch außerordentlich viel Geld verdient. Aber die Budgets, die das Führungspersonal verantwortet, sind oft sehr groß. Und Chefärzte in Kliniken können durchaus exorbitante Gehälter erreichen, wenn sie gezielt darauf hinarbeiten. Dazu müssen sie sich habilitieren und zumeist zweckgebundene Forschung betreiben. Anders als in der freien Wirtschaft führt der Weg zum Spitzengehalt also über eine wissenschaftliche Karriere.

Je größer die Versuchungen, desto stärker müsste ein System den Menschen vor ihnen bewahren

Vielleicht noch wichtiger für machtbewusste Menschen ist ein anderes Argument: Während Ingenieure, um bei Kroemers Beispiel zu bleiben, an Autos arbeiten, behandeln Mediziner Menschen. Oder sie legen mit ihrer Forschung potenziell die Grundlagen für Therapiedurchbrüche von morgen. Die Ängste und Hoffnungen der Kranken und ihrer Angehörigen begleiten sie. Das stattet Mediziner mit einer besonderen Macht aus und begründet darüber hinaus eine Reputation, die selbst in unserer modernen Welt bis ins Mystische reicht.

Gehen wir nun davon aus, dass Kroemer Recht hat. Dass die Menschen, die in der Medizin arbeiten, sich nicht von denen in anderen Disziplinen unterscheiden. Dann bedeutet das: Sie sind genauso wenig wie alle anderen automatisch vor Versuchungen gefeit. Und das in einem Fach, in dem die Versuchungen, siehe oben, für Menschen mit einem gesteigerten Geltungsbedürfnis größer sind als in vielen anderen.

Je größer freilich die Versuchungen sind, desto stärker müsste ein System so aufgebaut sein, dass es die Menschen vor ihnen bewahrt, dass es sie einhegt durch geeignete Strukturen und Regeln. Und hier wird es wiederum interessant. Als Journalist, der zu diesem Thema recherchiert, merkt man deutlich: Sobald die Sprache auf die Hierarchien und die Karrierepfade in der Medizin kommt, verstummen viele Gesprächspartner. Weil sie selbst Teil dieser Hierarchien sind: als Abhängige oder als diejenigen, die das Sagen haben. Und doch, oder gerade deswegen, ergibt sich ein recht eindeutiges Bild.

Eine Struktur, die Folgsamkeit belohnt

Die Medizin ist bis heute geprägt von einem Ordinariensystem mit vielerorts fast feudal anmutenden Strukturen, obwohl das ihm zu Grunde liegende Lehrstuhlprinzip offiziell fast überall längst abgeschafft wurde. An der Spitze: der Professor und Lehrstuhlinhaber, der oftmals zugleich Klinikdirektor ist, mit einer Schar von Privatdozenten und »außerplanmäßigen Professoren«, die zugleich seine Oberärzte sind, dazu Doktoranden, Habilitanden, Postdocs und Assistenzärzte.

Sie alle sind von seinem Wohlwollen abhängig, sie alle fügen sich notgedrungen ein in die Struktur, die Folgsamkeit belohnt und selten den Widerspruch. Der Ordinarius, der offiziell nicht mehr so genannt wird, macht Karrieren in einem von Geld und/oder Macht über menschliche Gesundheit geprägten Berufsfeld. Oder er macht sie eben nicht – wenn einer seiner Gefolgsleute sein Missfallen erregt.

Wer als Chefarzt zugleich Lehrstuhlinhaber ist, verdient dann jedenfalls immer dreifach: über das Professoren-Beamtengehalt, die Anstellung am Klinikum und über die Privatliquidation, die privatärztliche Abrechnung von Behandlungskosten neben den gesetzlichen Krankenkassen, die womöglich falsche Anreize setzt – genau wie die zusätzlichen Einnahmen durch Patienten aus dem Ausland. Häufig kommen noch lukrative Gutachterjobs hinzu.

Auf einsame Spitzen zugeschnittene Strukturen

In den meisten Fällen führen derartige Hierarchien und auf den Professor beziehungsweise Chefarzt ausgerichtete Abläufe nicht zu schlechter Medizin oder wissenschaftlichem Betrug. In den meisten Fällen besetzen ganz normale Charaktere die Lehrstühle, mittelmäßige und gute, die mit ihrer außerordentlichen Macht angemessen umzugehen vermögen.

Im Medizinsystem landen jedoch fraglos auch schlechte Wissenschaftler, mutmaßlich sogar häufiger als in anderen Disziplinen. Dafür sprechen jedenfalls die Daten der Onlineplattform Vroniplag, die wissenschaftliche Abschlussarbeiten von Prominenten nach Plagiaten durchsucht. Insgesamt machen (zahn)-medizinische Doktorarbeiten und Habilitationen mit rund 100 die Hälfte der gut 200 untersuchten Verdachtsfälle aus, deren Urhebern Vroniplag Täuschung vorwirft.

Mindestens 22 von ihnen wurde bisher der Titel aberkannt – weil die viel beschäftigten Professoren an der Spitze wegen Überlastung nicht so genau hingesehen haben? Die Debatte über die Qualität des häufig als Schmalspur verschrienen medizinischen Doktors hat hier jedenfalls ihren Ursprung.

Chefärzte sind überfordert, geben aber keine Macht ab

Eine Insiderin sagt: »Die medizinischen Disziplinen sind heute viel zu komplex, als dass ein Lehrstuhlinhaber in der Lage wäre, sowohl Krankenversorgung als auch Forschung und Lehre intellektuell zu beherrschen und seine Klinik zu managen.« Viele Chefärzte seien überfordert, »erkennen das aber nicht an, geben keine Macht ab und versagen«.

Und noch etwas kommt erschwerend hinzu: die ausgeprägte Schulenbildung in der Medizin, die einen zusätzlichen Wettbewerbsdruck zwischen den Konkurrenten an unterschiedlichen Standorten erzeugt. Auch zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen und Kliniken innerhalb eines Klinikums herrsche, so berichten Mitarbeiter, häufig eine fast schon zerstörerische Konkurrenz.

Solange das Ordinariensystem kulturell weiter dominiert, wird sich nichts ändern

Und dann sind da die Reste eines bis 19. Jahrhundert und davor zurückreichenden Geniekults, die den Mediziner zu mehr machen als zu einem besonders hoch qualifizierten Handwerker. Und so wie Macht mit Geld codiert ist, ist es der Begriff des Genies in unserer Gesellschaft immer noch weitgehend mit dem männlichen Geschlecht.

Kurzum: Medizinprofessoren, Klinikdirektoren und medizinischen Forschern fehlt in einem extrem kompetitiven Umfeld oftmals das Korrektiv, weil sie kein Gegenüber haben, das ihnen beizeiten sagt: So geht das nicht. Das System Medizin hält es für sie nicht bereit. Und das ist das eigentliche Problem der Medizin.

Drei spektakuläre Skandale in diesem Jahr, alle aus der Medizin oder eng mit ihr verbunden, drei Männer ab 50 stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen: Alles nur Zufall? Hätte sich diese Häufung an Skandalen genauso in einer ganz anderen Wissenschaft ereignen können, zum Beispiel der Germanistik oder der Chemie?

Das Erbe des Ordinariensystems

Vermutlich nicht. Womit nichts über die individuelle Schuld oder Verantwortung der drei beispielhaft genannten Professoren gesagt ist. Über diese haben Kommissionen und andere Ermittlungsinstanzen zu entscheiden gehabt oder sind noch dabei. Auch können in ihren Fällen ganz andere Dynamiken am Werk gewesen sein.

Doch viele sagen: Solange das offiziell in den 1970er Jahren fast überall abgeschaffte Ordinariensystem kulturell immer noch dominiert, wird das nichts mit dem Aufbruch in der Medizin. Eine Departmentstruktur mit kleineren Einheiten und einer auf mehr Schultern verteilten Verantwortung unter gleichberechtigtem Einbezug von Naturwissenschaftlern könnte in der Lage sein, das Hierarchieproblem der Medizin zu lösen. Und damit womöglich auch das Qualitätsproblem. Ansätze für solche Reformen gibt es inzwischen an vielen Orten, auch an der Charité.

Deren Chef Kroemer, der von einer flächendeckenden Einführung von Departments freilich wenig hält, gibt sich vorsichtig systemkritisch. Er sagt: »Wir sollten … unseren eigenen Organisationsstrukturen immer kritisch und veränderungsbereit gegenüberstehen. Dafür gibt es nach meiner Wahrnehmung, insbesondere unter den jüngeren Klinikdirektoren, eine hohe Bereitschaft.«

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.