Wahlprognosen: Meinung: An der Grenze zur Wahrsagerei
Führt Hillary Clinton mit zehn Prozent Abstand vor Donald Trump, oder liegt sie ein Prozent zurück? Meinungsforscher betrachten sich als Wissenschaftler, nicht als Wahrsager mit der Treffergenauigkeit von Horoskopen. Dennoch: In Island hat die Piratenpartei 14,5 Prozent der Stimmen eingefahren – eine Prognose kurz vor der Wahl sah sie mit satten 22 Prozent als Wahlsieger. In einem News-Feature ist die Zeitschrift "Nature" den immer ungenaueren Umfragewerten jetzt auf den Grund gegangen.
Nehmen wir an, Sie möchten ein Meinungsbild zu den Wahlabsichten der Bevölkerung ermitteln. Dann konsultieren Sie Ihre Personendatenbank und suchen mindestens 1000 Wahlberechtigte heraus, und zwar zu etwa gleichen Teilen Männer und Frauen. Ferner sollte die Probe die Verteilung von Reichtum und Bildung sowie die geografische Verteilung der Gesamtbevölkerung widerspiegeln. Dann setzen sich die fleißigen Hilfskräfte der Umfrage-Institute ans Telefon und rufen die ausgewählten Personen an.
Über stationäre Telefone erreichten die Anrufer früher relativ schnell bis zu einem Drittel ihrer Zielpersonen. Im Jahr 2016 haben aber in England und den USA bereits die Hälfte der Haushalte nur noch Handys. Weil die meisten Menschen Anrufer mit unbekannten Nummern einfach wegdrücken, kommen die Telefonisten der Umfrage-Institute nur bei etwa jedem zehnten Anruf durch. Das verteuert die Umfragen erheblich und macht es schwieriger, in der vorgegebenen Zeit eine repräsentative und ausreichend große Stichprobe zu erheben.
Schwierige Stichproben
Sollte man vielleicht besser auf das Internet umsteigen? Wer bei Google nach "Internet Polls" sucht, findet eine ganze Reihe von Anbietern, die versprechen, dass jeder Laie mit ihren Tools binnen weniger Minuten eine Umfrage erstellen könne. Alle großen Nachrichtenportale nutzen sie, um ihren Nutzern Mitwirkung vorzugaukeln. Interessierte Gruppen jedoch können die Ergebnisse solcher Umfragen leicht manipulieren – ihre Aussagekraft ist minimal.
Die großen Umfrage-Institute gehen deshalb einen anderen Weg: Sie rekrutieren gezielt Menschen für Onlinebefragungen. Der so gewonnene Adressenpool heißt im Fachjargon "Online-Access-Panel". Das Marktforschungsunternehmen Harris Interactive wirbt damit, auf mehr als acht Millionen Panelisten (grässliches Wort!) weltweit zugreifen zu können. Wenn das Unternehmen den Auftrag für eine Umfrage oder eine Marktanalyse erhält, verschickt es E-Mails an ausgewählte Menschen seines Pools und bittet sie, auf einer eigens eingerichteten Internetseite ihre Meinung kundzutun. Weil Harris Interactive genaue Hintergrundinformationen über die Menschen in seiner Datenbank besitzt, lassen sich die Rohdaten der Ergebnisse relativ zuverlässig auf die Gesamtbevölkerung umrechnen.
Probleme der Auswertung
Die University of Southern California und die "Los Angeles Times" gehen einen anderen Weg, um die diesjährige Wahl des US-Präsidenten genauer vorherzusagen. Sie befragen seit Juli jede Woche eine vorher ausgewählte Gruppe von 3000 US-Bürgern nach ihren Wahlabsichten. Damit möchten sie eine mögliche Wählerwanderung besser erfassen. Sollte aber die Gruppe von Anfang an die Wahlabsichten der Amerikaner verzerrt abbilden, würde dieser Fehler über die gesamte Zeit erhalten bleiben.
Die zu Bits geronnenen Meinungen von 1000 oder mehr befragten Menschen bilden erst einmal nur Rohdaten. Weil die Befrager in der vorgegebenen Zeit niemals alle Zielpersonen erreichen, entstehen Ungleichgewichte. Vielleicht sind zu viele Frauen in der Stichprobe oder zu viele Nordlichter. Das muss das Umfrage-Institut in seiner finalen Statistik ausgleichen. Andere Gründe für eine Schieflage fallen nicht gleich auf und verzerren das Ergebnis manchmal bis zur völligen Wertlosigkeit. Hier einige Beispiele:
Bei politischen Umfragen verweigern einige Gruppen die Antworten. Viele Unterstützer der AfD oder von Donald Trump misstrauen dem "System". Dazu zählen sie auch die Meinungsforscher. In England haben diese in den letzten Jahrzehnten stets die Stimmenanzahl der Tories unterschätzt. Die schüchternen Konservativen ("shy conservatives") bekennen sich offenbar bei Telefonumfragen nicht so gerne zu ihrer Partei.
In den USA wählen maximal 65 Prozent aller eingetragenen Wähler. Die Wahlforscher müssen also in Erfahrung bringen, welche Partei voraussichtlich mehr Wähler mobilisieren wird. Auch in Deutschland ist dieses Phänomen in den letzten Jahren immer wichtiger geworden.
Wenn aus dem Nichts ein neues bedeutendes Thema auftaucht, fehlen den Meinungsforschern die Bewertungsgrundlagen. Zum Beispiel hat die Ankunft von mehreren hunderttausend Flüchtlingen die Landtagswahlen in Deutschland in diesem Jahr entscheidend beeinflusst. Die Umfragen konnten diesen Trend aber nur ungenügend erfassen.
An der Grenze zur Wahrsagerei
Um solche und andere Unwägbarkeiten zu berichtigen, schrauben die Meinungsforscher nach geheimen Rezepten an ihren Ergebnissen herum. Damit überschreiten sie allerdings die Grenze zur Wahrsagerei. Zahlen allein garantieren keine exakte Wissenschaft. Ein Astrologe destilliert seine zweifelhaften Gutachten schließlich auch aus den objektiv überprüfbaren Bahndaten der Planeten. Unter Wissenschaftlern ist es Konsens, dass Methoden überprüfbar sein müssen, alle andere ist Kaffeesatzleserei.
Die undurchsichtige Korrektur der Ergebnisse ist bedenklich, denn Meinungsforscher beeinflussen durch ihre Vorhersagen den Verlauf von Wahlkämpfen und den Ausgang der Wahlen. Der abgetretene britische Premierminister David Cameron wollte mit seinem unseligen Versprechen einer Volksbefragung zum EU-Austritt seine Wahlchancen verbessern, weil in Umfragen seine Konservativen ständig Stimmen an die nationalistische UKIP verloren. Bei den Unterhauswahlen schnitten die Tories aber viel besser ab: Sie erhielten 330 Sitze und damit etwa 50 Sitze mehr, als die Prognosen erwarten ließen. Cameron fühlte sich an sein Versprechen gebunden, zumal Umfragen im gesamten Jahr 2015 eine Mehrheit für den Verbleib erwarten ließen. Doch diese Erwartung erwies sich als falsch.
Noch bedenklicher, ja nachgerade gruselig sind die Zukunftsvorstellungen der Umfrage-Branche. Sie wünscht sich den vollkommen gläsernen Menschen. Jo Twyman, der Forschungschef von YouGov für Europa und den Nahen Osten, sagte gegenüber "Nature":
"Big Data, das ist es, wo genauere Ergebnisse herkommen werden. Es geht darum, die Wahldaten eines Befragten mit seiner Internetnutzung, anderen Umfragedaten und demografischen Informationen zu verbinden. Das erzeugt ein wesentlich umfassenderes Bild dieser Person und ermöglicht genauere und kleinteiligere Vorhersagen."
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