In Bestform: »Orthorektiker streben ein Gefühl von Reinheit an«
Eine gesunde Ernährung ist wichtig. Es gibt aber auch Menschen, die es damit übertreiben und nur noch ganz bestimmte Lebensmittel essen. Ab wann machen sich Menschen zu viele Gedanken um die Ernährung? Sind Sportlerinnen und Sportler besonders gefährdet? Das und mehr erklärt Jana Strahler, Professorin für Sportwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, im Interview.
Frau Professor Strahler, welche Rolle spielt das Thema Ernährung für Hobbysportlerinnen und -sportler?
Es ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Sich fit zu halten und gesund zu ernähren, gehört mittlerweile für zahlreiche Menschen zum Alltag, ist fast so etwas wie ein Lebensstil. Und das ist zunächst einmal gut so. Denn die meisten von uns sitzen viel zu viel, und ungesunde Lebensmittel und Fast Food sind allgegenwärtig. Um Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen, müssen wir an beiden Schrauben drehen: Ernährung und Bewegung.
Manche Hobbysportler haben ganz spezielle Ernährungskonzepte. Sie essen beispielsweise keine Kohlenhydrate mehr oder trinken nur noch Eiweiß-Shakes. Ist das übertrieben?
Vermutlich ja. Wer zwei- bis dreimal die Woche Sport mit moderater Intensität und Dauer treibt, braucht sicherlich keine spezielle Ernährung oder zusätzliches Eiweiß. Die Nährstoffe, die man über eine ausgewogene und vollwertige Ernährung bekommt, sind völlig ausreichend. Da muss man keinen bestimmten Regeln folgen oder Rezeptbücher wälzen – außer, man hat gewisse Unverträglichkeiten oder macht das einfach gerne. Kochen und Backen kann ja auch ein Hobby sein.
Ab wann ist die Beschäftigung mit der eigenen Ernährung denn nicht mehr normal?
Wenn ich extrem viel Zeit damit verbringe. Und wenn es mich unruhig macht, sobald ich mich mal nicht gesund ernähre und mich nicht an meine – meist selbst auferlegten – Regeln gehalten habe. Das sind wichtige Warnzeichen, die auf eine so genannte Orthorexie hindeuten können.
Was heißt das?
Das Ziel von Menschen, die dieses Verhalten zeigen, ist es, die gesündeste Gesundheit zu erreichen. Indem sie sich extrem bewusst ernähren und körperlich fit halten, streben sie ein Gefühl der Reinheit an.
Stichwort: Orthorexie
Orthorexie (Orthorexia nervosa) leitet sich vom griechischen »orthos» (richtig, korrekt) und »orexis« (Appetit, Begierde) ab. Der Begriff kam Mitte der 1990er Jahre auf: Der amerikanische Alternativmediziner Steven Bratman hat das Verhalten an sich selbst beobachtet und daraufhin erstmals beschrieben. Im Jahr 2018 setzten sich internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen und stellten allgemeine Kriterien für Orthorexie auf. Über diese wird bis heute diskutiert, eine klare Systematik gibt es noch immer nicht.
Das klingt erst mal nicht schlecht. Kann das ungesund oder gar gefährlich werden?
Leider gibt dazu wenig systematische Untersuchungen. In der Literatur finden sich fast nur Fallberichte. Sie betrachten meist sehr extreme Formen von orthorektischem Verhalten, zum Beispiel Menschen, die nur noch Samen essen. Sie haben eine überwertige Idee davon, was solche Superfoods zur Gesundheit beitragen können. Ein so restriktives Essverhalten hat natürlich Konsequenzen, vor allem körperlich: Oft sind Mangelernährung und Gewichtsverlust die Folge. Auch auf psychosozialer Ebene kann es sich bemerkbar machen, etwa durch Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprobleme, Störungen im Umgang mit Emotionen und im Sozialverhalten.
Weil man schlicht keine Kapazitäten mehr hat, sich mit etwas anderem zu beschäftigen?
Genau. Sich richtig zu ernähren und sich darüber zu informieren, bestimmt bei Orthorektikern den gesamten Tagesablauf. Bei vielen Betroffenen führt das zum sozialen Rückzug. Sie nehmen beispielsweise keine Einladung zum Essen bei Freunden oder im Restaurant an, weil sie nicht wissen, was ihnen dort vorgesetzt wird.
»Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob dieses Verhalten wirklich Krankheitswert hat oder eher ein Lebensstil ist«
Lässt sich eine Orthorexie denn als Essstörung bezeichnen?
Hier ist die Diskussion in vollem Gange. Aktuell gehen Forschende am ehesten davon aus, dass es sich um eine verdeckte oder unterschwellige Essstörung handelt. Sie kann als Vorstufe oder im Genesungsprozess von einer anderen Essstörung wie Magersucht oder Bulimie auftreten. Aber es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob dieses Verhalten wirklich Krankheitswert hat oder eher ein Lebensstil ist.
Es gilt also offiziell nicht als Krankheit?
Nein. Die Orthorexie ist bisher weder im ICD-11 verortet, dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, noch im DSM-5, dem Manual für die Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen. Für uns Kliniker und Psychologen ist vor allem eines wichtig: der Leidensdruck. Manche Betroffene berichten, dass sie sich schämen oder schuldig fühlen. Wer sein eigenes Verhalten als emotionale oder soziale Belastung sieht, ist in unseren Augen krank und braucht professionelle Hilfe. Ob Orthorektiker ein Problem in ihrem eigenen Verhalten erkennen, hängt vom Schweregrad ab.
Wie viele Menschen sind in Deutschland etwa betroffen?
Tritt Orthorexie eher bei Männern oder bei Frauen auf?
Tendenziell scheinen Frauen häufiger betroffen zu sein, ungefähr doppelt so oft wie Männer. Das passt zu der Theorie, dass die Orthorexie eine Unterform von Essstörungen ist, denn die sind bei Frauen sogar neunmal häufiger als bei Männern.
Gibt es bestimmte Personengruppen, die ein erhöhtes Risiko für Orthorexie haben?
Ja. Vor allem Menschen, die sich von Berufs wegen viel mit Ernährung und Gesundheit beschäftigen: Ärztinnen und Ärzte, Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Diätassistentinnen und -assistenten zählen zur Risikogruppe. In Interviews mit Betroffenen stellt sich oft heraus: Aus einem allgemeinen Interesse an gesunder Ernährung sind sie in eine Spirale gelangt. Sie streichen immer mehr von ihrer Liste an erlaubten Lebensmitteln und nutzen Essen, um unangenehme Emotionen zu bewältigen.
Eine Studie der Universität Göttingen hat ergeben, dass vor allem sportlich aktive Frauen orthorektisches Verhalten zeigten. Sind Sporttreibende denn anfälliger dafür?
Das ist noch unklar. Wir haben in einer Übersichtsarbeit keinen generellen Zusammenhang zwischen Orthorexie und Sport gefunden. Wir wissen aber, dass einige Menschen, die zwanghaft versuchen, sich gesund zu ernähren, auch exzessiv Sport treiben. Studien anderer Forscherteams sprechen dafür, dass sportlich aktive Menschen, die zum Beispiel oft ins Fitnessstudio gehen oder Yoga praktizieren, durchaus als Risikogruppe für orthorektisches Verhalten betrachtet werden sollten.
Besteht auch ein Zusammenhang zwischen Sportsucht und Orthorexie?
Ja. Zwar betrifft Sportsucht eher Männer und Orthorexie eher Frauen, doch die Betroffenen sind häufig im gleichen Alter und haben einen ähnlichen sozialen Hintergrund. Zudem gibt es psychologische Merkmale, die eine Überschneidung wahrscheinlicher machen: Beide Gruppen sind stark an Gesundheit und Fitness interessiert, neigen zum Perfektionismus und haben oft Angst vor Krankheiten.
Für Leistungssportler ist es fast obligatorisch, sich intensiv mit der Ernährung zu beschäftigen. Kommt Orthorexie hier häufiger vor?
Ja, anders als im Hobbysport kommen wir bei Leistungssportlerinnen und -sportlern auf vier- bis fünfmal so hohe Zahlen. Die Ernährung ist hier ein besonders großes Thema. Wenn man die letzten paar Prozent aus sich herausholen will, ist es wichtig, optimal mit Nährstoffen versorgt zu sein. Das Körpergewicht zu reduzieren und Muskeln aufzubauen kann je nach Sportart zu einer Leistungssteigerung beitragen.
Magersüchtige hungern, um möglichst schlank zu sein. Muskelsüchtige trainieren, um wie ein Bodybuilder auszusehen. Was wollen Menschen mit Orthorexie erreichen?
Man könnte sie vielleicht als eine Mischung aus beidem beschreiben. Orthorektiker streben sowohl nach dem Fitness- als auch nach dem Schlankheitsideal, wobei Letzteres wahrscheinlich eher untergeordnet ist. In Studien sehen wir eine höhere Gefährdung bei Personen, die ihrem Aussehen eine große Bedeutung beimessen. Im Prinzip wollen sie sich selbst optimieren.
Von Sportlerin zu Sportlern
Jana Strahler klettert leidenschaftlich gerne: um fit zu bleiben, aber auch, um Abstand vom Alltag zu gewinnen. Beim Klettern müsse man sich genau auf das konzentrieren, was man tut, sagt die Sportpsychologin. Sonst könne das dramatische Folgen haben, insbesondere, wenn man draußen am Fels unterwegs ist.
Hat das mit dem Selbstwert zu tun?
Natürlich. Die Menschen wollen ihren Selbstwert erhalten und steigern. Wer sich gesund ernährt und regelmäßig Sport treibt, erhöht sein soziales Ansehen. Das Umfeld zollt Respekt, wenn man in der Lage ist, das durchzuhalten. Das wirkt wiederum als Verstärker des zwanghaften Verhaltens.
Was kann man tun, wenn man bei sich oder anderen ein solches Verhalten beobachtet?
Man sollte der Person ein niederschwelliges Angebot machen, sie beispielsweise zu einer professionellen Beratung motivieren. Das Spannende an diesem Krankheitsbild ist: Die Betroffenen sind sehr interessiert, sie wollen sich informieren und suchen auch von sich aus Diätassistenten oder Ernährungsberaterinnen auf. Das sollte man als Chance begreifen. Die Fachleute können einschätzen, ob das Verhalten Krankheitswert hat. Sie sollten falsche Überzeugungen ansprechen und versuchen, ein Umdenken zu bewirken. Damit Betroffene zurückfinden in einen normalen Umgang mit der Ernährung, braucht es aber auch Psychologen und Psychotherapeuten. Denn es gilt nicht nur, die Liste der verbotenen Lebensmittel zu kürzen, sondern ebenso, den Genuss wieder mehr in den Vordergrund zu rücken, Ängste abzubauen und für soziale Teilhabe zu sorgen.
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