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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die Mathematik des Todes

Das eine Stückchen Kuchen wird mich schon nicht umbringen – oder doch? Das Risiko lässt sich mit statistischen Methoden und der Einheit »Mikromort« berechnen.
Eine dicht gepackte, kugelförmige Anordnung von Totenköpfen in verschiedenen Farben, hauptsächlich in Lila- und Blautönen, schwebt vor einem Hintergrund mit einem Farbverlauf von Rosa zu Lila.
»Ich bin gerade tausend Tode gestorben« – richtiger wäre wohl: eine Milliarde Mikromort.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Schwitzige Hände, Herzrasen und düstere Gedanken: Das sind die Begleiterscheinungen, die mich plagen, wenn ich eine Flugreise antreten muss. Dabei weiß ich, wie irrational das ist. Viel besorgter sollte ich sein, wenn ich mich in Darmstadt aufs Fahrrad schwinge – doch das bereitet mir überhaupt keinen Stress. Etwa ein Viertel der deutschen Erwachsenen leiden einer Umfrage zufolge wie ich unter Flugangst – und das, obwohl das Flugzeug inzwischen als eines der sichersten Verkehrsmittel gilt. 2024 starben laut Statistischem Bundesamt 441 Radfahrende allein auf deutschen Straßen. Weltweit hingegen wurden im gleichen Jahr 244 Todesopfer durch Unfälle im Flugverkehr verzeichnet (dabei gab es in diesem Jahr weltweit mehr Fluggäste, als Deutschland Einwohner hat).

Menschen sind generell sehr schlecht darin, Wahrscheinlichkeiten realistisch einzuschätzen. Das erklärt nicht nur irrationale Ängste, sondern auch den Erfolg von Glücksspielen wie Lotto. Ein Freund erzählte mir kürzlich von einem Konzept innerhalb der Entscheidungstheorie, das dabei helfen soll, ein besseres Gespür für Gefahren und Risiken zu bekommen. Begründet hat es der Elektrotechniker Ronald Arthur Howard in den 1980er Jahren: die Einheit »Mikromort«. So lässt sich das Risiko bestimmter Aktivitäten beziffern: Ein Mikromort entspricht der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, bei einer bestimmten Tätigkeit zu sterben. Sie wollen einen Marathon laufen? Sieben Mikromort. Sie bekommen eine Anästhesie? Zehn Mikromort. Sie wollen das Matterhorn besteigen? 2840 Mikromort.

Um zu diesen Zahlen zu kommen, braucht man zunächst eine ausführliche Statistik. Wie viele Menschen gingen diesen Tätigkeiten nach und verstarben dabei? Natürlich hängt das Ergebnis dabei stark von der Personengruppe ab, die untersucht wird (Alter, Geschlecht und so weiter), sowie von der geografischen Lage: Es ist vermutlich sicherer, in Darmstadt Fahrrad zu fahren als in Kairo.

Mit Statistik durchs Leben

Erstaunlicherweise reicht die Geschichte der Statistik nicht sonderlich weit zurück. Tatsächlich jagte das mathematische Fachgebiet manchen Menschen regelrecht Angst ein – so offenbar Charles Dickens. Das zeigt ein Zitat aus seinem Buch »Hard Times«, das sich auf die Anzahl durchschnittlicher Todesfälle pro Jahr bezieht. Falls die Zahl der bisher getöteten Menschen unter dem Jahresdurchschnitt liege, müssten »vor dem letzten Tag des Jahres etwa vierzig oder fünfzig Menschen getötet werden – und sie werden getötet«, schrieb der Schriftsteller. Das erklärt, warum der gesellschaftliche Nutzen von Statistik erst im 19. Jahrhundert anerkannt wurde, obwohl der Brite John Graunt bereits 200 Jahre zuvor die ersten Sterbestatistiken durchführte.

Heute ist der Nutzen des mathematischen Teilgebiets unumstritten. Versicherungen und Banken verwenden Statistik, um Risikobewertungen vorzunehmen; statistische Erhebungen ermöglichen es, psychologische oder soziologische Phänomene zu untersuchen; die physikalische Forschung wäre ohne Statistik undenkbar.

Und auch die Risiken unseres alltäglichen Lebens lassen sich dank Howard mit Hilfe von Statistik abschätzen. Indem er untersuchte, wie hoch der Anteil an Menschen ist, die bei einer gewissen Handlung sterben, konnte er ein allgemeines Sterberisiko für verschiedene Tätigkeiten angeben – ausgedrückt mit der Einheit Mikromort. Wenn von einer Million Personen, die eine Flugreise antreten, im Mittel eine bei einem Absturz ums Leben kommt, dann beträgt das Risiko des Fliegens ein Mikromort.

Dem Mathematiker David Spiegelhalter fehlte aber etwas bei Howards Analyse: Die Einheit Mikromort gibt lediglich an, wie wahrscheinlich es ist, dass eine ganz bestimmte Handlung uns umbringt. Das mag für eine einmalige Aktivität wie das Erklimmen eines Bergs sinnvoll. Doch bei langfristigen Gewohnheiten, etwa dem regelmäßigen Genuss von Fast Food, eignet sich die Maßzahl nur bedingt.

Wie viel Lebenszeit büßen wir ein?

Das Rauchen einer Zigarette kommt beispielsweise mit gerade einmal 0,21 Mikromort einher – und wäre damit deutlich weniger riskant, als im Alter von 45 Jahren morgens aus dem Bett aufzustehen (sechs Mikromort). Allerdings hat das Rauchen lang anhaltende negative Folgen für den Körper, die das morgendliche Aufstehen an sich nicht mitbringt. Das dauerhafte Risiko wird so nicht erfasst.

Mikroleben | Verschiedene Faktoren beeinflussen unsere durchschnittliche Lebenserwartung: So büßen wir pro fünf Kilogramm Übergewicht jeden Tag ein Mikroleben ein, gewinnen durch ausgewogene Ernährung hingegen ein Mikroleben dazu.

Um Langzeiteffekte von unterschiedlichen Tätigkeiten zu berücksichtigen, führte Spiegelhalter daher die Maßzahl »Mikroleben« ein. Diese beziffert, wie viel Lebenszeit man durch das Ausführen einer Handlung durchschnittlich verliert – büßt man ein Mikroleben ein, verringert das die Lebenserwartung um eine halbe Stunde.

Einer der bedeutendsten Unterschiede zwischen Mikromort und Mikroleben besteht darin, dass sich die eine Größe aufsummiert und die andere nicht. Wenn ich meine morgendliche Fahrradfahrt zum Darmstädter Bahnhof überlebt habe, dann sinkt mein Mikromort-Konto bezüglich dieser Fahrt wieder auf null. Am nächsten Tag starte ich die Reise also wieder mit dem gleichen Risiko. Bei Angaben zu Mikroleben ist das anders: Wenn ich eine Zigarette rauche und eine Stunde später eine zweite, dann summiert sich die dadurch verlorene Lebenszeit auf. Und natürlich verkürzt auch das bloße Ticken der Uhr meine zur Verfügung stehenden Lebensjahre – jeden Tag gehen von ganz allein 48 Mikroleben flöten. Dafür kann ich im Gegensatz zu Mikromort auch Mikroleben zurückgewinnen: Ein 20-minütiger Spaziergang versorgt mich beispielsweise mit rund zwei Mikroleben, also einer zusätzlichen Stunde Lebenserwartung.

Realitätscheck

All diese Zahlen und Fakten sind zwar unterhaltsam zu lesen und machen sich auch gut in einem Gespräch (»Hey, wusstest du schon, dass dieses Bier dein Leben um etwa 15 Minuten verkürzt?«) – oder auch nicht. Aber wie berechnet man die jeweiligen Mikroleben, die man durch eine Handlung einbüßt?

Hierfür muss man die Lebenserwartung verschiedener Personen miteinander vergleichen. Zum Beispiel: Wie unterscheidet sich die Lebenserwartung von Rauchern und Nichtrauchern? Indem man diese Zeitdifferenz heranzieht und durch die im Durchschnitt gerauchten Zigaretten teilt, lässt sich die mittlere Lebenszeit berechnen, die uns jede Zigarette raubt. Dass dieses Ergebnis nicht genau sein kann, ist klar. So hängt der Unterschied in der Lebenserwartung auch vom Geschlecht der Personen ab, ebenso wie vom Wohnort und Alter. Diese Daten lassen sich vielleicht noch isoliert erfassen. Doch wenn es um den allgemeinen Lebensstil geht, wird es schon komplizierter. So zeigen Studien, dass viele Raucher allgemein einen ungesünderen Lebenswandel haben, sich beispielsweise schlechter ernähren und weniger bewegen.

Solche Korrelationen lassen sich nicht immer herausrechnen. Gerade beim Thema Rauchen gibt es allerdings Langzeitstudien, die über mehrere Jahrzehnte hinweg viele Personen begleiteten, von denen einige im Lauf ihres Lebens irgendwann mit dem Rauchen aufgehört haben. Auf diese Weise lässt sich der Effekt, den das Rauchen auf die Lebenserwartung einer Person hat, besser isoliert betrachten. Solche Untersuchungen legen nahe, dass eine einzelne Zigarette einer Person wahrscheinlich etwas weniger als die ursprünglich berechneten 15 Minuten Lebenszeit raubt, wenn sie die sonstigen Lebensgewohnheiten eines Nichtrauchers hat.

Statistik ist eine schwierige Angelegenheit. Mikromort und Mikroleben können zwar dabei helfen, Risiken besser einzuschätzen – man sollte den Größen aber nicht allzu viel Bedeutung schenken und etwa sein Leben danach ausrichten, möglichst wenige Mikromort zu riskieren und Mikroleben zu verlieren. Denn unsere Welt ist viel komplexer: Zum Beispiel gewinnt man während eines Spaziergangs zwar zwei Mikroleben zurück, muss aber auch mit einigen Mikromort rechnen, da man schließlich überfahren werden könnte. Gleichzeitig kann Bewegung den Gemütszustand verbessern, was nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Lebensdauer positiv beeinflusst. Einfache Größen wie Mikromort oder Mikroleben können unmöglich die gesamte Bandbreite an Folgen bewerten, die mit einer Handlung einhergeht. Deshalb sollte man ihnen nicht zu viel Bedeutung beimessen.

Ich für meinen Teil werde dennoch versuchen, mich bei künftigen Flugreisen an Statistiken festzuhalten – und mir vor Augen führen, mit wie wenigen Mikromort das Fliegen verbunden ist im Vergleich zu meinen Radfahrten. Vielleicht hilft das ja.

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