Die fabelhafte Welt der Mathematik: Was ein beliebtes Kartenspiel mit einem Primzahl-Rätsel zu tun hat

Während ich in meiner Kindheit Diddl-Blöcke tauschte, Sticker sammelte oder Gummitwist spielte, vertrieben sich einige meiner Klassenkameraden die Zeit mit Kartenspielen. Vor allem »Magic: The Gathering«, kurz MTG, hatte es vielen von ihnen angetan. Kein Wunder, handelte es sich damals um das erste Fantasy-Sammelkartenspiel, in dem aberwitzige Kreaturen auftraten und die Fantasie beflügelten.
Das Spiel ist jedoch bei Weitem nicht nur bei Kindern beliebt. Tatsächlich ist es höchst komplex und erfordert viel taktisches Verständnis. Vor dem Beginn einer Partie muss man ein Deck aus eigenen Karten zusammenstellen, von dem man hofft, dass es dem Gegner möglichst viele Probleme bereitet. Dabei gibt es eine schier unendliche Fülle an Möglichkeiten, schließlich gibt es inzwischen schätzungsweise rund 20 000 verschiedene Karten (wobei die Auswahl der Karten, die ein Spieler tatsächlich physisch besitzt, meist weitaus kleiner ist).
Diese Fülle an Möglichkeit hat schon die Fantasie einiger Nerds beflügelt. So fragten sich manche, wie vielfältig das Spiel wirklich ist. Bringt es beispielsweise genügend Komplexität mit sich, um Berechnungen durchzuführen – so wie ein Computer? Tatsächlich konnte Alex Churchill gemeinsam mit zwei weiteren Magic-Spielern im Jahr 2019 eine Spielsituation erzeugen, bei der die Karten als theoretisches Computermodell fungieren – als eine Turingmaschine.
Spätestens da war klar: MTG ist das komplexeste Spiel von allen. Rein theoretisch lässt sich jede Art von Berechnung, die ein Computer leisten kann, durch ein bestimmtes MTG-Spiel durchführen. Seit ich das weiß, übt das Spiel auch auf mich eine gewisse Faszination aus.
In der Praxis ist das natürlich nicht besonders hilfreich. Allein eine solche Turingmaschine zu codieren ist extrem aufwändig. Und wer hat schon die Zeit, einen Schritt weiter zu gehen und die Milliarden verschiedenen Kartenkombinationen durchzugehen, um eine Rechenaufgabe mit Magic-Karten zu lösen, anstatt es durch einen eleganten Python-Code (oder eine andere Programmiersprache der Wahl) in ein Computerterminal einzugeben?
Wie sich herausstellt, gibt es Personen, die diese Zeit durchaus bereitwillig aufbringen. So hat Churchill gemeinsam mit Howe Choong Yin im Jahr 2024 eine Magic-»Programmiersprache« entwickelt. Durch diese lassen sich elementare Berechnungen wie Addition, Multiplikation oder Division mit Magic-Spielzügen codieren. Sie wollen 3 + 5 rechnen? Na klar, kein Problem; nötig sind nur ein paar Karten wie »Vaevictis Asmadi, der Schreckliche«, das Handbuch von Churchill und Yin sowie etwas Geduld. Vergesst Supercomputer, Quantencomputer und dieses ganze fancy Zeug: Die Zukunft des Rechnens liegt in Magic-Karten – oder?
Wahrscheinlich nicht. Denn Churchill gibt auf Reddit zu, dass schon allein eine Division mit Magic-Karten extrem umständlich ist. Komplexere Probleme auf diese Weise anzugehen, erweist sich als quasi unmöglich – erst recht, wenn es darum geht, sich mit offenen Fragestellungen aus der Mathematik zu beschäftigen.
Zwillinge von Primzahlen und Magic: The Gathering
Das hielt andere jedoch nicht davon ab, es zumindest zu versuchen. Im Herbst 2024 veröffentlichte ein Reddit-User eine Kombination aus 14 Spielzügen mit 19 Karten, bei welcher der Ausgang des Spiels von einem knapp 180 Jahre alten mathematischen Rätsel abhängt: Gibt es unendlich viele Primzahlzwillinge?
Seit Jahrhunderten jagen Mathematikerinnen und Mathematiker einer Lösung dieses Problems nach. Kein Wunder, schließlich faszinieren Primzahlen die Menschheit bereits Jahrtausende. Sie bilden so etwas wie die Atome der Zahlentheorie: Es handelt sich dabei um Zahlen, die nur durch 1 und sich selbst teilbar sind, wie 2, 3, 5, 7, 11 und so weiter. Alle anderen Zahlen lassen sich eindeutig als Produkt aus Primzahlen schreiben, etwa 15 = 3 · 5. Primzahlzwillinge sind Paare von Primzahlen, die sich nur um zwei unterscheiden; wie: 3 und 5, 5 und 7, 11 und 13, 17 und 19 und so weiter.
Zwar ließ sich in der Vergangenheit beweisen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Trotzdem nimmt ihre Anzahl mit wachsender Größe ab: Je weiter man in der Zahlengerade fortschreitet, desto seltener tauchen Primzahlen auf – das gilt umso mehr für Primzahlzwillinge. Die Frage, die sich Mathematiker seit Jahrhunderten stellen, lautet: Gibt es auch unendlich viele Primzahlzwillinge? Oder ist irgendwann Schluss?
Im Jahr 1846 äußerte der französische Mathematiker Alphonse de Polignac die inzwischen berühmt gewordene »Primzahlzwillingsvermutung«: Es gibt unendlich viele Primzahlzwillinge. Trotz zahlreicher Beweisideen und Versuche ließ sich die Vermutung bislang allerdings weder beweisen noch widerlegen. Das größte bekannte Primzahlzwillingspaar ist: 2 996 863 034 895 · 21 290 000 ± 1. Ist es vielleicht das letzte?
Neue MTG-Karten mit mathematischem Bezug
Das Interesse an Primzahlen unter MTG-Spielern nahm durch die Einführung des neuen Kartensets »Duskmourn: Haus des Schreckens« am 27. September 2024 zu. Dieses enthält unter anderem die Karte »Zimone, die Infragestellerin«. Ihre Beschreibung lautet: »Zu Beginn deines Endsegments und falls bei diesem Zug ein Land unter deiner Kontrolle ins Spiel gekommen ist und die Anzahl der Länder, die du kontrollierst, eine Primzahl ist, erzeuge einen Primo den Unteilbaren, einen legendären 0/0 grünen und blauen Fraktalwesen-Kreaturenspielstein, und lege dann entsprechend viele +1/+1-Marken auf ihn. (2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29 und 31 sind Primzahlen.)«
Das klingt – zumindest für MTG-Unbedarfte wie mich – ziemlich kryptisch. Aber die Aktion der Karte hängt von der Anzahl der Länder ab, die ein Spieler kontrolliert; und zwar konkret davon, ob die Anzahl einer Primzahl entspricht.
»Primzahlen auf einer Magic-Karte? Say no more«, wird sich wahrscheinlich der Reddit-User »its-summer-somewhere« gedacht haben. So tüftelte er eine komplizierte – und nicht besonders realistische – Spielsituation aus, deren Ausgang davon abhängt, ob es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt – und veröffentlichte sie auf dem Messageboard Reddit. »Irgendwie wusste ich, dass die Einführung des Konzepts der Primzahlen in das Spiel eine schlechte Idee sein würde. Gut zu wissen, dass ich mich nicht geirrt habe«, kommentierte ein anderer Nutzer prompt.
Die Idee von »its-summer-somewhere« besteht darin, Situationen zu schaffen, in denen sich bestimmte Spielkarten, so genannte Kreaturen, beliebig oft kopieren lassen (es gibt Kartenkombinationen, die solche Aktionen ermöglichen). Eine weitere Karte sorgt dafür, dass die kopierten Kreaturen stets Länder sind. Solange die Anzahl der kontrollierten Länder keine Primzahl ist, erzeugt eine gewisse Kartenkombination zwei weitere Länder. Sobald die Anzahl der Länder aber einer Primzahl p entspricht, kommt Zimone ins Spiel: Die erzeugt dann nämlich zwei neue »Primo«-Kreaturen, die wiederum automatisch auch Länder sind. Damit hat man nun p + 2 Länder. Falls p + 2 ebenfalls eine Primzahl ist, wird Zimones Fähigkeit erneut getriggert, wodurch vier Primo-Kreaturen im Spiel sind. Genau dann ist es möglich, drei von ihnen zu »tappen«, wodurch man dem Gegner Schaden zufügt. Somit lässt sich dem Gegenüber nur dann schaden, wenn Zimone zweimal hintereinander ausgelöst wird – wenn also die Anzahl der Länder einem Primzahlzwilling entsprechen. Der Schaden, der also höchstens ausgerichtet werden kann, hängt von der Anzahl aller existierenden Zwillingsprimzahlen ab: »Der maximale Schaden ist unendlich, genau dann wenn die Primzahlzwillingsvermutung wahr ist«, schreibt der Reddit-User.
Wer es genau wissen will: Das sind die 14 Spielzüge, die zu der berüchtigten Situation führen:
- Ausgangspunkt: Man braucht die Karten »Ley-Linie der Vorahnung« und »Ley-Linie der Transformation«, wodurch man das Spiel beginnt und einen Kreaturentypen bestimmen kann, den alle Kreaturen zusätzlich zu ihrem eigentlichen Typ erhalten. In diesem Fall muss »Saproling« als Kreaturentyp gewählt werden. Auf dem Friedhof, dem Ablagestapel, liegt »Spiegelsaal / Splitterreich«. Zudem besitzt man eine Primzahl an Nicht-Wald-Ländern, darunter »Nachtstahl-Zitadelle«, einen Berg und ein Land, das in diesem Zug bereits gespielt wurde.
- Indem man die zwei Verzauberungskreaturen »Weberin des Heiligtums« und »Vom Reellen befreit« miteinander kombiniert, hat man beliebig viel Mana.
- Dann kommt »Abuelos Erwachen« zum Einsatz, um »Spiegelsaal / Splitterreich« als Kreatur zu reanimieren.
- Man entsperrt den Spiegelsaal, um eine Kopie davon zu erzeugen. Dann entsperrt man den Spiegelsaal auf dieser Kopie. Das wird beliebig oft wiederholt, so dass y Spiegelsäle entstehen. Anschließend entsperrt man auf allen Kopien das Splitterreich.
- Nun kommt »Myrkul, Fürst der Knochen« (ermöglicht es, leicht abgewandelte Kopien der Karte zu machen) zum Einsatz, ebenso wie »Zimone, die Infragestellerin« (erzeugt »Primo, den Unteilbaren«), »Birgi, Göttin der Geschichten« (die Mana erzeugt, um andere Karten spielen zu können), »Belagerungszombie« (tappe drei Kreaturen) und »Entweihungselementar« (opfere eine Kreatur, sobald ein Spieler einen Zauberspruch spielt).
- Dann führt man die »Spiegelgalerie« aus, wodurch wegen »Entweihungselementar« alle Kreaturen geopfert werden müssen. Diese werden durch »Myrkul« in Verzauberungen verwandelt. Zusätzlich werden »Uhr der Omina« (wodurch man zwei Artefakte tappen kann), »Parallel-Leben« (Tokens werden verdoppelt) sowie »Lebende Äste« ausgeführt, was zusammen mit »Ley-Linie der Transformation« alle Kreaturen in Länder verwandelt. Als Letztes kommt das »Isochron-Szepter« zum Einsatz – ein Artefakt, das es erlaubt, eine Spontanzauberkarte aus der Hand zu nehmen und in das Artefakt einzuprägen. In diesem Fall prägt man »Narsets Umkehrung« ein.
- Das Szepter, »Narsets Umkehrung« und die »Uhr der Omina« ermöglichen es, »Geschmolzenes Ebenbild« (auf der Hand) beliebig häufig zu kopieren. Birgi sorgt dabei dafür, dass das Mana niemals ausgeht.
- Dann werden y + 1 Kopien von Zimones Fähigkeiten auf den Stapel gelegt.
- Falls die Anzahl der kontrollierten Länder eine Primzahl p ist, wird Zimones Fähigkeit aktiviert, die zwei Primo-Tokens erzeugt. Diese werden sofort zu Ländern, so dass nun p + 2 Länder unter Kontrolle sind.
- Falls p + 2 immer ebenfalls eine Primzahl ist, wird Zimone erneut getriggert. Dann sind vier Primo-Tokens im Spiel, von denen 3 getappt werden können, um dem Gegner Schaden zuzufügen.
- Falls p + 2 keine Primzahl ist, wird die »Nachtstahl-Zitadelle« mit dem »Geschmolzenen Ebenbild« kopiert. Dadurch wächst die Anzahl der Länder um zwei. Wegen des »Entweihungselementars« müssen jedoch alle Kreaturen geopfert werden – es ist also nicht möglich, drei Kreaturen zu tappen.
- Die einzige Möglichkeit, drei oder mehr Kreaturen im Spiel zu haben, die getappt werden können, besteht darin, zweimal hintereinander Zimone auszuführen. Nur so lässt sich Schaden anrichten. Dafür muss sich ein Paar Primzahlen um genau zwei unterschieden – es braucht also einen Primzahlzwilling.
- Die Schritte 9 bis 11 werden wiederholt, bis Zimone nicht mehr ausgeführt werden kann. Durch »Geschmolzenes Ebenbild« wird die Anzahl der Länder zwischen den Zimone-Einsätzen erhöht, so dass immer dann Schaden entsteht, wenn die Anzahl der Länder einem Primzahlzwilling entspricht.
- Der Schaden am Gegner kann daher genau dann beliebig groß werden, wenn die Primzahlzwillingsvermutung wahr ist.
Bringt das die Menschheit nun einer Lösung der Primzahlzwillingsvermutung näher? Wohl eher nicht. Klar, man könnte zwei Personen abstellen und sie ewig lange das Magic-Kartenspiel spielen lassen; immer und immer wieder. Doch letztlich beruht die Situation auf dem Wissen, ob zwei Zahlen ein Primzahlzwillingspaar sind – anstatt das explizit zu beweisen.
Unterhaltsam und skurril ist das erdachte Spiel aber allemal. Und offenbar verleitet es auch Nichtmathematiker dazu, sich mit Problemen der Zahlentheorie zu beschäftigen. Und eventuell hat es auch einen umgekehrten Effekt: Ich als Mathe-Fan bin schon länger auf der Suche nach einem neuen Hobby; vielleicht sollte ich es ja mal mit MTG versuchen?
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