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Lobes Digitalfabrik: Mit Twitter in die Glaskugel blicken

Anhand der gesammelten Tweets der Welt wollen Forscher vorhersagen, wo es bald zu Revolten oder Protesten kommt. Doch die Sache hat einen Haken: Konflikte folgen keinen Regeln.
Menschen bei einer Demonstration

Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2016 kam es in mehreren größeren US-Städten zu teils gewalttätigen Protesten. In Portland etwa gab ein Mann mehrere Schüsse auf Teilnehmer einer Anti-Trump-Demonstration ab. Diese gewaltsamen Auseinandersetzungen hätten möglicherweise vermieden werden können, sagen Forscher. Und zwar mit jenem Instrument, mit dem Trump zu verbaler Gewalt anstiftet: Twitter.

Jeden Tag werden auf der ganzen Welt rund 500 Millionen Tweets abgesetzt – das sind etwa 350 000 Tweets pro Minute. Der Kurznachrichtendienst ist ein Seismograf für soziale Stimmungen – und ein riesiger Datenschatz für wissenschaftliche Untersuchungen. Forscher des Rensselaer Polytechnic Institute (RPI) in New York haben sich die Twitter-Daten in den Tagen vor und nach der Trump-Wahl noch einmal genauer angesehen.

Mit Hilfe einer Software generierten sie einen Datensatz aus 2,5 Millionen Tweets, die zwischen dem 26. Oktober und 20. Dezember 2016 abgesetzt wurden und die Wörter »Trump«, »Clinton« und »Election«, also Wahl, beinhalteten. Mittels Geolokalisierung der IP-Adressen der Accounts wurden deren Verfasser geortet und mit Berichten über Proteste aus Nachrichtenquellen abgeglichen. Wenn in den Medien von einer Schießerei berichtet wurde, schaute man, an welchen Orten zeitgleich über Trump, Clinton und Wahlen getwittert worden war. Die Forscher konnten dabei einen Zusammenhang zwischen der Netzwerkstruktur und dem Auftreten von Protesten identifizieren. »Das soziale Netzwerk«, resümieren sie in ihrem Fachartikel, »ist ein Prädiktor für Mobilisierung, was wiederum ein Prädiktor für Protest ist.«

Die im Juni dieses Jahres auf einer Konferenz erstmals präsentierte Studie sorgte für Aufsehen, weil sie vom US Army Research Laboratory (ARL), einer Einrichtung des US-Militärs, finanziert wurde. Das Pentagon hegt eine Obsession, zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit soziale Unruhen auf dem Radar zu haben, bevor diese ausbrechen.

Die »Sozialphysik« geht davon aus, dass die Gesellschaft wie ein physikalisches System funktioniert – Konflikte sollen vorhergesagt werden wie das Wettergeschehen

Es gibt eine Reihe weiterer vom US-Militär finanzierter Forschungsvorhaben, was vor allem außenpolitisch für die Bewertung von Krisenregionen in Lateinamerika oder im Nahen Osten von Interesse ist. Die CIA und Google haben 2010 in das Start-up Recorded Future investiert, das mit linguistischen Methoden Ereignisse in der Zukunft vorhersagen will. Grob gesagt geht es darum, aus im Netz auffindbaren Informationsschnipseln Risikoanalyen zu erstellen: Wo droht ein Terroranschlag? Wo ist eine Cyberattacke geplant oder bereits im Gang?

Forscher der Arizona State University und der Yahoo Labs haben 2016 ein Modell entwickelt, das auf Grundlage von Social-Media-Daten Proteste mit 70-prozentiger Genauigkeit vorhersagen soll. Der Gedanke: Wenn man frühzeitig weiß, dass ein weltpolitisches Ereignis wie der Arabische Frühling ausbricht, hat man geostrategisch mehr Handlungsoptionen. Und darauf kommt es im Mächtespiel der internationalen Arena an.

Das ebenfalls von Google finanzierte Project GDELT registriert Ereignisse aus der ganzen Welt, um auf dieser Grundlage Prognosen über Konflikte zu erstellen. Ziel ist das Aufspüren künftiger Revolten. Ein Algorithmus durchforstet dazu Nachrichten aus Print, Fernsehen und Radio in über 100 Sprachen und kategorisiert bestimmte Schlüsselwörter. Aus den Daten werden für jedes Land so genannte »Unruheintensitäten« – ein Maß für Aufruhr – destilliert.

Die Proteste in Kairo im Januar 2011, die den Beginn des Arabischen Frühlings markierten und zum Sturz des Machthabers Mubarak führten, wiesen zum Beispiel Parallelen mit dem Selbstmordanschlag in Stockholm auf, wo im Dezember 2010 zwei Sprengsätze in einer belebten Einkaufszone detonierten. Aus dem Verlauf vorheriger Konflikte soll man auf die Intensität künftiger Krisen schließen können, so die Logik. Die Anhänger der Denkschule der »Sozialphysik« gehen von der Annahme aus, dass die Gesellschaft wie ein physikalisches System funktioniert, dass es Gesetzmäßigkeiten gibt und dass sich Ereignisse in ähnlicher Form wiederholen, wenn dieselben Auslöser vorliegen. Mit Hilfe von Big-Data-Methoden soll es möglich sein, Konflikte wie das Wettergeschehen vorhersagen zu können.

Auch die Bundeswehr interessiert sich für datenanalytische Prognosetechniken. Wie aus einer Kleinen Anfrage der Fraktion »Die Linke« hervorgeht,

plant das Verteidigungsministerium die Beschaffung einer Software zur Verarbeitung von großen Datenmengen, um damit »mögliche Ausstattungs- und Versorgungsprobleme« zu identifizieren.

Die mathematischen Modelle leiden jedoch unter dem methodischen Mangel, dass sie einen statischen Entwicklungsverlauf der Gesellschaft unterstellen und zu vergangenheitsorientiert sind. Jeder gesellschaftliche Konflikt ist unterschiedlich, und nicht jeder Protest äußert sich in sozialen Netzwerken. Ein Hacker würde wohl kaum eine Cyberattacke im Vorfeld auf Twitter ankündigen, sondern sich allenfalls dort im Nachhinein dazu öffentlich bekennen. Die Konfliktforscher Lars-Erik Cedermann und Nils B. Weidmann kritisierten in einem Aufsatz für die Fachzeitschrift »Science« (»Predicting armed conflict: Time to adjust our expectations?«), dass die Modelle die Komplexität von Konflikten unterschätzten. Im Gegensatz zu regelbasierten Entscheidungsverfahren wie Wahlen oder Autokäufen seien Konflikte gerade durch den Bruch von Regeln gekennzeichnet. Und genau das ist die Achillesferse der Modelle, die von einer Regelmäßigkeit ausgehen. Vielleicht sollte man besser versuchen, Konflikte erst zu verstehen, bevor man sie auf einer Makroebene prognostizieren will.

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