Direkt zum Inhalt

Freistetters Formelwelt: Mit Zirkel und Lineal gegen die Seuche

In der Antike musste man sich bei Epidemien mit einfachen Hilfsmitteln begnügen. Und auch göttlicher Rat war nicht immer hilfreich, wie die Einwohner von Delos einst herausfanden.
Überreste des Apollotempels auf Delos

Die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie beschäftigen so gut wie alle wissenschaftlichen Disziplinen. Klar gehören Medizin und Biologie dazu, aber Chemie, Soziologie oder Psychologie tragen ebenso mit ihren Erkenntnissen bei. Und natürlich die Mathematik: Ohne die komplexen Modelle, mit denen die Ausbreitung eines Virus beschrieben werden kann, hätte die Politik ein wichtiges Werkzeug weniger. Die Bedeutung der Mathematik in der aktuellen Krise ist unbestritten. Doch auch schon früher hat man sich angesichts einer erschreckenden Seuche den Zahlen zugewandt.

Während einer Pestepidemie im 5. Jahrhundert v. Chr. fragten die Bewohner der griechischen Insel Delos beim Orakel von Delphi um Rat. Das verkündete, dass man den würfelförmigen Altar im lokalen Tempel des Apollon vergrößern müsse, um die vom Gott gesandte Seuche zu beenden. Das Volumen müsse verdoppelt werden – nur dann würde sich die Pest zurückziehen.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Das taten die Delier auch, allerdings auf die falsche Weise. Denn die Seuche blieb, und erst auf Nachfrage erklärte das Orakel, dass man das Volumen nicht einfach irgendwie verdoppeln dürfe. Der Altar müsse auch danach exakt die Form eines Würfels haben, und diese geometrische Konstruktion dürfe nur mit den klassischen Instrumenten von Zirkel und (unmarkiertem) Lineal erfolgen.

So lautet zumindest die Legende. Warum der seuchenschickende Gott so sehr an Geometrie interessiert war, ist nicht überliefert. Die Pest verschwand jedenfalls irgendwann wieder – jedoch nicht, weil die Mathematiker von Delos die Aufgabe lösen konnten. Das ist unmöglich, wie man an dieser Formel sehen kann:

Das »Delische Problem« ist auch als »Würfelverdoppelung« bekannt und gehört wie die Quadratur des Kreises zu den klassischen geometrischen Problemen der Antike. Die obige Formel beschreibt die Erkenntnisse des Hippokrates von Chios, der vermutlich in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. lebte.

Er fand einen Weg, den Würfel zu verdoppeln, allerdings nicht mit den vorgeschriebenen Werkzeugen. Aber er erkannte, dass man die ursprüngliche Frage umformulieren kann. In moderne mathematische Sprache übersetzt lautete die Aufgabe nun, dass man bei einem Würfel mit Kantenlänge a zwei Strecken x und y finden muss, so dass die obige Gleichung erfüllt ist. Stellt man die Terme um, ergibt sich für x ein Wert von a mal der dritten Wurzel aus 2.

Um die Aufgabe des Orakels korrekt zu lösen, muss man demnach einen Weg finden, nur mit Zirkel und Kompass die dritte Wurzel aus 2 zu »konstruieren«, also vereinfacht gesagt eine Strecke mit dieser Länge zu markieren. Das aber ist unmöglich, wie der französische Mathematiker Pierre Wantzel im Jahr 1837 beweisen konnte.

Kein Wunder, denn die dritte Wurzel aus 2 ist eine irrationale Zahl, die nicht als Quotient von zwei ganzen Zahlen dargestellt werden kann. Sie lässt sich weder durch die anderen Grundrechenarten ausdrücken noch durch das Ziehen von Quadratwurzeln. Das sind jedoch alle mathematischen Operationen, die mit Zirkel und Lineal durchgeführt werden können, und damit ist die vom Orakel gestellte Aufgabe unlösbar.

Was als Maßnahme zum Seuchenschutz nicht funktioniert hat und nicht funktionieren konnte, hat aber zumindest das Interesse der Mathematik über Jahrtausende wachgehalten. Die geometrischen Probleme der Antike bilden das Fundament der komplexen Mathematik der Gegenwart. Vielleicht hat das Orakel ja auch nur auf ganz anderen Zeitskalen gedacht und wollte die Delier darauf hinweisen, wie wichtig mathematisches Wissen ist, um all den kommenden Problemen und Krisen begegnen zu können.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.