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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die Kleinsche Flasche dürfte in drei Dimensionen nicht existieren

In der Geometrie gibt es Oberflächen, die ohne Innen und Außen auskommen, und so die Fachwelt seit Jahrhunderten faszinieren. Vor allem, wenn sie den dreidimensionalen Raum sprengen.
Eine abstrakte 3D-Darstellung zeigt eine geschwungene, transparente Struktur in Lila, die in einem dynamischen, grün-schwarzen Hintergrund schwebt. Die Struktur reflektiert Licht und erzeugt einen futuristischen Effekt. Der Hintergrund besteht aus Linien und Punkten, die Bewegung und Tiefe suggerieren.
Manche erinnert sie an eine moderne Vase – doch bei der Kleinschen Flasche handelt es sich um ein zentrales topologisches Untersuchungsobjekt.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen; viele davon können Sie auch im Podcast »Geschichten aus der Mathematik« hören.

Vor uns steht eine Art Vase auf dem Tisch, die sich in einer modernen Wohnung im angesagten Japandi-Stil gut machen würde. »Und das soll jetzt etwas Besonderes sein?«, fragt mich Karolin Breitschädel, Host unseres Podcasts »Geschichten aus der Mathematik«, als wir in der Leipziger Universität bei den Felix-Klein-Tagen zu Besuch sind. Ich kann ihre Überraschung durchaus verstehen – vom Optischen her wirkt die »Kleinsche Flasche« nicht allzu überwältigend. Und doch fasziniert sie Fachleute seit ihrer Entdeckung vor mehr als 140 Jahren.

Um zu verstehen, was es damit auf sich hat, müssen wir weit in der Zeit zurückreisen – ins alte Römische Reich, wo sich erste Spuren einer etwas einfacheren geometrischen Form finden. Es ist eine Schleife, die es der Nerd-Community besonders angetan hat: das Möbiusband. Dieses lässt sich kinderleicht herstellen. Man nehme einen länglichen Papierstreifen und führe beide Enden zusammen. Doch bevor man sie zusammenklebt, rotiert man das eine Ende um 180 Grad. Das Ergebnis ist ein verdrehtes Band. Diese Form begegnet einem im Alltag öfter, als man zunächst vielleicht vermutet – beispielsweise findet man in Kaufhäusern entsprechend gestrickte Schals.

Aus mathematischer Sicht sind Möbiusbänder spannend, weil sie nur eine Fläche und einen Rand besitzen. Es gibt im Gegensatz zu einem zylinderförmigen Objekt (das heißt, einem nicht verdreht zusammengeklebten Band) kein Innen und kein Außen. Man kann ohne Absetzen mit dem Finger die Fläche eines Möbiusbands entlangfahren und jeden Punkt darauf berühren. Mathematiker sprechen von einer »nichtorientierbaren« Fläche.

Hier kommt Felix Klein ins Spiel: Er hat das Möbiusband verallgemeinert und erstmals eine dreidimensionale nichtorientierbare Fläche beschrieben. Aber was ist an diesen Oberflächen so faszinierend?

Ein unendliches Band

Als Physikerin finde ich Möbiusbänder extrem interessant, denn sie helfen unter anderem, die Quantenphysik besser zu verstehen. So habe ich früh im Studium eine seltsame Quanteneigenschaft von Elementarteilchen kennengelernt, die als Spin bezeichnet wird. Man kann sich diesen bei Elektronen wie einen kleinen Stabmagneten vorstellen, den das Teilchen mit sich trägt. Dieser kann zwei Zustände haben. Entweder der Nordpol zeigt nach oben oder er zeigt nach unten. Das wird oft durch einen Pfeil dargestellt.

Und jetzt kommt das Erstaunliche: Wenn man diesen Spinzustand, also den Pfeil, um 360 Grad dreht, dann erhält man den gespiegelten Pfeil. Man muss einen Spinzustand also um 720 Grad (zwei volle Umdrehungen) rotieren, um wieder im Ausgangszustand zu landen. Das ist natürlich völlig kontraintuitiv. Und hier schafft das Möbiusband Abhilfe. Man kann sich vorstellen, dass sich der Spinzustand auf einem Möbiusband bewegt. Darauf muss der Zustand zwei volle Umdrehungen ausführen, um wieder in der Ausgangslage zu landen.

Spinzustände auf Möbiusband | Wenn man einen Spinzustand (rechts, blau) um 360 Grad rotiert, dann erhält man einen gespiegelten Zustand (rechts, rot).

Möbiusbänder haben viele andere spannende Eigenschaften. In Fabriken wurden sie als Förderbänder genutzt, weil sie sich deutlich langsamer abnutzen als nichtverdrehte Bänder, bei denen nur eine Seite belastet wird. Und wer gerne bastelt: Ich kann Ihnen nur nahelegen, mal ein Möbiusband längs auf verschiedene Weisen zu zerschneiden – die Ergebnisse sind erstaunlich.

Zwei vereinigte Möbiusbänder

Felix Klein begeisterte sich ebenfalls für die Eigenschaften von Möbiusbändern. Und er überlegte sich: Wenn man zwei gewöhnliche Bänder entlang ihres Rands zusammenklebt, dann erhält man ein breiteres Band – sprich, je eine Kante der beiden Bänder verschwindet. Ein Möbiusband hat aber nur eine einzige Kante. Was passiert also, wenn man zwei Möbiusbänder zusammenklebt?

In diesem Fall ergibt sich eine Oberfläche ohne Rand. Das Ergebnis ist die Kleinsche Flasche, eine Oberfläche, die wie ein Möbiusband kein Innen und kein Außen hat.

A mathematician named Klein
Thought the Möbius band was divine.
Said he: »If you glue
The edges of two,
You'll get a weird bottle like mine.« – Leo Moser, Mathematiker

Falls Sie jetzt nach dem vorigen Bastelspaß motiviert sind und versuchen möchten, zwei Möbiusbänder zusammenzukleben, muss ich Sie leider enttäuschen. Das wird Ihnen wohl nicht gelingen, falls Sie nicht das Basteln in vier Dimensionen beherrschen. Denn nur dort lässt sich die Kleinsche Flasche realisieren.

Aber was war dann dieses Objekt auf dem Tisch, das meine Kollegin Karolin Breitschädel so kaltgelassen hat?

Das war auch eine Kleinsche Flasche. Aber die Einbettung dieser Figur in den dreidimensionalen Raum führt zu einem Artefakt: An einer Stelle durchdringt sich die Flasche selbst. Ohne eine solche Durchdringung lässt sich die Kleinsche Flasche nicht in 3D umsetzen. Im Vierdimensionalen hingegen gibt es das Hindernis nicht.

Kleinsche Flasche
Kleinsche Flasche | Eine Kleinsche Flasche durchdringt sich im dreidimensionalen Raum stets an einer Stelle selbst.

Das ist, wie wenn man seinen Schatten beobachtet und eine Hand vor seine Stirn oder hinter seinen Kopf führt. Im zweidimensionalen Schattenbild sieht es aus, als würde die Hand im Kopf verschwinden – und es lässt sich kein Unterschied zwischen beiden Handlungen erkennen. Erst die dritte Dimension kann alle geometrischen Informationen auflösen. So ist es auch mit der Kleinschen Flasche, nur eben in einer Dimension höher.

Die Besonderheiten der Kleinschen Flasche

Nach all den visuellen Herausforderungen möchte ich Ihnen noch eine einfachere Möglichkeit geben, sich die Kleinsche Flasche vorzustellen. Wie das Möbiusband lässt auch sie sich, rein theoretisch, durch ein ebenes Blatt Papier konstruieren. Hierfür klebt man den rechten und linken Rand zusammen und bildet daher zunächst ein gewöhnliches Band. Und dann klebt man noch den oberen und unteren Rand zusammen, führt aber zuvor wie beim Möbiusband eine Verdrehung um 180 Grad durch.

Da sich das in der Praxis nicht bewerkstelligen lässt, hilft es, sich stattdessen eine Ameise vorzustellen, die auf dem ebenen Blatt herumläuft. Sobald sie auf einen der vier Ränder trifft, wird sie auf den gegenüberliegenden Rand gebeamt. So ähnlich wie die Schlange im ikonischen Handyspiel der 2000er Jahre, »Snake« – die älteren Lesenden werden sich erinnern. Um die Kleinsche Flasche zu erhalten, muss man jedoch ein gegenüberliegendes Randpaar spiegeln: Wenn die Ameise beispielsweise die obere linke Ecke passiert, dann kommt sie unten rechts wieder heraus.

Mit Papier eine Kleinsche Flasche basteln | Indem man ein Blatt Papier zuerst zu einem Zylinder rollt, lässt sich daraus (zumindest theoretisch) eine Kleinsche Flasche basteln.

Wie das Möbiusband hat auch die Kleinsche Flasche spannende mathematische Eigenschaften. Unter anderem bildet sie die einzige Ausnahme des Satzes von Ringel-Youngs, der mit der Färbung von Objekten zu tun hat. Möchte man beispielsweise eine Landkarte zeichnen und die jeweiligen Länder einfärben, ohne dass benachbarte Staaten dieselbe Farbe haben, braucht man nur vier unterschiedliche Farben – völlig egal, wie die Länder angeordnet sind. Das besagt der Vier-Farben-Satz.

Dessen Verallgemeinerung ist der Satz von Ringel-Youngs: Er gibt an, wie viele Farben man höchstens braucht, um Länder auf Oberflächen verschiedener Form einzufärben. Wie sich herausstellt, hängt das von der Anzahl der Löcher der Oberflächen ab. Zum Beispiel könnte ich mich entscheiden, eine Karte für einen donutförmigen Planeten anzufertigen. Wie viele Farben brauche ich in dem Fall maximal? Da der Planet ein Loch hat, folgt aus dem Satz, dass höchstens sieben Farben ausreichen.

Der Satz von Ringel-Youngs gilt für alle Oberflächen – außer die Kleinsche Flasche. Diese sollte dem Satz zufolge auch durch höchstens sieben Farben kolorierbar sein. Wie sich aber herausstellt, genügen für die Kleinsche Flasche stets sechs.

Färbung einer Kleinschen Flasche | Möchte man eine beliebige Aufteilung einer Kleinschen Flasche so färben, dass keine zwei benachbarten Gebiete die gleiche Farbe haben, sind nur sechs Farben nötig.

Wegen solcher einzigartiger Eigenschaften – und ihrer Nichtorientierbarkeit – ist die Kleinsche Flasche ein beliebtes Objekt von Mathematikerinnen und Mathematikern. Und auch in der Physik taucht die Kleinsche Flasche auf. Sie kann dabei helfen, komplizierte Quantenzustände zu beschreiben, ganz ähnlich wie das Möbiusband die Spinzustände veranschaulicht.

Falls Sie also nerdige Freunde haben, könnte die Kleinsche Flasche ein tolles Weihnachtsgeschenk sein. Sie hat sogar einen praktischen Nutzen. Man kann sie mit einer Flüssigkeit füllen und als Vase verwenden – oder als Weinkaraffe.

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