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Sex matters: Ein Stich zu viel

»Husband Stitch« – so nennt der Volksmund eine widerwärtige Praxis: wenn bei der Geburt der Damm reißt und danach die Vagina ohne Zustimmung der Frau zu eng genäht wird. »Das ist Genitalverstümmelung«, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller.
Zwei Hände in weißen Handschuhen vernähen mit einem blauem Faden einen Spalt in einem Apfel. Die Szene zeigt eine Übung zur Nahttechnik, die in medizinischen Schulungen verwendet wird.
Nähen will gelernt sein. Umso mehr, wenn ein falscher Stich das Sexualleben eines Menschen zerstören kann.

»Ein halbes Jahr nach der Geburt unseres Kindes hatten wir zum ersten Mal wieder Sex. Ich hatte mich gefreut. Ich hatte gehofft, es würde schön – stattdessen tat es höllisch weh. Ich dachte erst, das wären Nachwirkungen der Geburt, dass mein Körper eben noch Zeit braucht. Aber unser Sohn ist jetzt zwei. Und es ist immer noch genauso. Sex tut weh. Immer. Mein Frauenarzt sagt, alles sei gut verheilt. Neulich meinte er sogar, es könne psychisch sein. Aber ich weiß einfach: Da stimmt was nicht.« (Linda*, 38)

Als Linda zu mir in die Beratung kam und von ihren Schmerzen beim Sex erzählte, fragte ich sie, ob sie bei der Geburt genäht worden sei. Sie bejahte: »Der Damm wurde genäht.« Ich wollte wissen, wie sich eine Penetration für sie anfühlt. »Dann ist die Haut ganz gespannt«, sagte sie, »als würde ich gleich reißen.« Das erhärtete meinen Verdacht: Nach der Geburt hatte man ihren Vaginaleingang – ohne ihr Wissen – zu eng genäht.

Zur Einordnung: Bei einer vaginalen Geburt reißt häufig der Damm, also das Gewebe zwischen Vaginalöffnung und Anus. Manchmal wird er bei der Geburt auch eingeschnitten, damit er nicht unkontrolliert reißt (was allerdings eine unter Medizinern umstrittene Maßnahme ist). Nach der Geburt wird die Wunde wieder zugenäht. Das ist gängige Praxis. Doch manchmal wird enger genäht als nötig. Enger als vorher. Und das nicht auf ihren Wunsch.

Sondern, weil manche Männer das explizit wünschen und darum bitten – in der irrigen Annahme, dass ihnen dadurch mehr Lust entsteht, und weil das medizinische Personal glaubt, diesen Wunsch erfüllen zu müssen. Oder weil es aus eigener Initiative handelt, um einem Mann einen Gefallen zu tun. Ohne jede medizinische Notwendigkeit. Ohne Einwilligung. Und ohne Rücksicht auf die Folgen.

Ich halte diesen Eingriff für eine Form der Genitalverstümmelung. Der sogenannte Husband Stitch, auch Daddy Stitch genannt, ist medizinisch unsinnig und potenziell traumatisierend. Es ist Gewalt. Betroffene berichten von Schmerzen, Narben und bleibenden Verletzungen. Viele erfahren erst später, dass ihre Vaginalöffnung enger genäht wurde – und zwar ohne jede Aufklärung, ohne Einwilligung.

Schmerzhaft, verstörend, traumatisch

Die psychischen Folgen? Scham, Kontrollverlust, Angst vor Sexualität – bis hin zu Posttraumatischer Belastungsstörung. Wissenschaftlich sind die Folgen dieses Eingriffs kaum untersucht. Vielleicht auch deshalb behaupten manche, es handele sich um eine urbane Legende. Doch die wachsende Zahl an Erfahrungsberichten zeichnet ein anderes Bild: Das Problem ist real. Wie für Linda und ihren Mann. Ihre Sexualität veränderte sich. Was sich einmal schön und zärtlich anfühlte, wurde schmerzhaft und verstörend.

Als ich Linda das erste Mal vom »Husband Stitch« berichtete, war das für sie Schock und Erleichterung zugleich: Schock, weil es so unvorstellbar war – und Erleichterung, weil endlich jemand da war, der ihr glaubte. Sie begann zu recherchieren, suchte eine zweite Meinung und kam schließlich zu dem Schluss: Ja, bei mir wurde ohne mein Wissen ein zusätzlicher Stich gesetzt. Zum Glück konnte ihr Mann glaubhaft versichern, dass er sich das weder gewünscht noch mit Ärzten oder Ärztinnen darüber gesprochen hatte. Auch er war entsetzt.

Das Vertrauen der beiden in die Geburtshilfe war erschüttert. Ein Arzt hatte ohne Lindas Wissen über ihren Körper entschieden, damit ihre (sexuelle) Selbstbestimmung verletzt und Gewalt ausgeübt. Sie fühlte sich machtlos. Fremdbestimmt. Traumatisiert.

Der Mythos hinter dem Husband Stitch

Aus meiner Sicht beruht der Husband Stitch auf einer völlig verzerrten Vorstellung von Sexualität und weiblicher Anatomie. Davon müssen wir uns dringend verabschieden.

Erstens: Wir müssen weg von dem falschen Narrativ, dass »enger« automatisch »besser« sei. Dahinter stecken Fantasien von Reinheit, Unschuld, Macht und Jungfräulichkeit. Die Pornoindustrie spielt das rauf und runter. Aber nur weil manche Männer gerne mit festem Griff masturbieren, heißt das noch lange nicht, dass eine enge Vaginalöffnung beim Sex schöner wäre. Schlimmer noch: Es kann Frauen Schmerzen bereiten. Die Lust der Frau bleibt dabei völlig auf der Strecke.

Zweitens: Die Vagina ist nach einer Geburt kein kaputtes Gerät, das man mal eben reparieren kann. Sie ist ein elastischer Muskelkanal – ein Schlauch aus Schleimhaut und Muskulatur. Nach der Geburt braucht er, wie jeder andere Muskel auch, Zeit zur Regeneration, damit das Körperempfinden und die Lustgefühle wiedererwachen können. Er braucht Fürsorge, Geduld, Akzeptanz, einfühlsamen Austausch.

Durch die Beratung fanden sie und ihr Mann endlich Worte für das, was passiert war – und die Möglichkeit, darüber zu sprechen. Wir erkundeten, welche schmerzfreien sexuellen Alternativen für Linda und ihren Mann in Frage kommen, ohne Penetration um jeden Preis. Ihrem Mann war vor allem eines wichtig: ihr nicht wehzutun. So konnten sie wieder erste gemeinsame lustvolle Momente erfahren und Sexualität für sich als Paar neu definieren.

Die beiden informierten sich auch über medizinische Möglichkeiten. Eine erneute Operation schloss Linda aus – ihre Angst vor einem weiteren Eingriff war zu groß. Manche Fachpersonen empfehlen so genannte Dilatoren, die die Vagina schrittweise dehnen; ein therapeutischer Prozess, der Zeit, Geduld und manchmal auch Überwindung erfordert. Für viele ist das ein gangbarer Weg. Für Linda war es keiner. Und das war für sie eine wichtige Entscheidung im Rahmen ihrer sexuellen Selbstbestimmung.

Stattdessen entschied sie sich, offen über ihre Erfahrung zu sprechen und andere Frauen aufzuklären. Das tat ihr gut. Sie war nicht länger nur betroffen, sondern konnte etwas bewegen.

Ich möchte alle Schwangeren ermutigen, das Thema Dammriss und Husband Stitch frühzeitig in der Geburtsvorbereitung anzusprechen. Fragen Sie konkret nach: Was passiert, wenn mein Damm reißt? Wie wird hier im Krankenhaus genäht? Wird mit mir gesprochen, bevor etwas geschieht? Positionieren Sie sich klar: Ich möchte nicht enger genäht werden – unter keinen Umständen. Sagen Sie deutlich: Ich will über jeden Eingriff informiert und gefragt werden. In den allermeisten Fällen sind Gebärende bei vollem Bewusstsein und sehr wohl in der Lage, medizinische Entscheidungen selbst zu treffen. Sprechen Sie auch mit Ihrem Partner, sofern er bei der Geburt dabei sein wird. Instruieren Sie ihn, für Sie einzutreten, sollten Sie selbst dazu nicht in der Lage sein.

Helfen Sie mit, Machtstrukturen in der Geburtshilfe zu hinterfragen und aufzubrechen. Falls Sie selbst eine Geburt als übergriffig oder einschüchternd erlebt haben: Sprechen Sie darüber. Sie sind nicht allein. Und wenn Sie selbst in der Geburtshilfe tätig sind, nehmen Sie diese Kolumne zum Anlass, das Thema auf den Tisch zu packen. Danke.

* Name geändert

Jetzt sind Sie dran:

Haben Sie selbst ein Kind geboren? Dann sprechen Sie über Ihre Erfahrungen. Wann fühlten Sie sich informiert, respektiert, sicher? Und wann hilflos, übergangen, ausgeliefert?

Sind Sie der Partner oder die Partnerin einer Mutter, ein Freund oder eine Freundin? Dann fragen Sie nach. Wie war die Geburt? Was ist geblieben – körperlich, seelisch, emotional?

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  • Quellen
Kessous, H. et al., Meeting der International Continence Society 2024 Madrid (Posterpräsentation)

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