Warkus' Welt: Der die Moral sprengte

Es gibt viele große Philosophen, deren Werke formal ungewöhnlich oder inhaltlich heiß umstritten sind; viele, deren Leben in der einen oder anderen Weise aufsehenerregend war. Und es gibt viele, die großen Einfluss innerhalb oder aber außerhalb des Fachs hatten. Einer jedoch bringt wie kaum ein anderer all diese Eigenschaften zusammen. Am 25. August jährt sich sein Todestag zum 125. Mal: Friedrich Nietzsche, vielleicht der größte und skandalöseste »Popstar« der Philosophie.
Der Pfarrerssohn und Zögling des traditionsreichen Eliteninternats Schulpforta in Sachsen-Anhalt schaffte es durch seine Begabung schon als 24-Jähriger (und ohne vorherige Promotion) auf eine Professur für Altphilologie in Basel. Gleich mit seinem ersten größeren wissenschaftlichen Werk, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« – oberflächlich eine Abhandlung über das Theater der griechischen Antike, faktisch ein großangelegter kulturphilosophischer Entwurf –, machte er sich in seinem Fach auf einen Schlag weitgehend unmöglich und schlug die Laufbahn des freischaffenden Philosophen ein. Nachdem er den Hochschuldienst offiziell aus gesundheitlichen Gründen verlassen hatte, lebte er ein unstetes Leben vor allem in der Schweiz und Italien, das bis heute geradezu als das Klischee einer Künstlerbiografie des Fin de siècle gilt. Anfang 1889 brach der Revolutionär zusammen, fiel Wahnzuständen anheim und verbrachte den Rest seines Lebens in geistiger Umnachtung. Am 25. August 1900 starb er als langjähriger Pflegefall im Alter von knapp 56 Jahren in Weimar, ohne seinen bereits einsetzenden Ruhm bewusst erlebt zu haben.
Stilistisch vielseitig und sprachlich brillant
Nietzsche hatte weder akademische Lehrer noch Schüler. Sein Werk sprengt die Grenzen aller Fachkonventionen. Seine Schriften sind stilistisch vielseitig und sprachlich brillant; sie lassen sich daher kaum als wissenschaftliche Abhandlungen im üblichen Sinne charakterisieren. Sein wahrscheinlich bekanntestes Buch »Also sprach Zarathustra« (erschienen in vier Teilen 1883 bis 1885) ist eine Prosadichtung in einem einzigartigen, an religiöse Überlieferungen erinnernden Stil. Durch seine sehr ungewöhnliche Biografie, seine Alleinstellung und dadurch, dass sein Werk bereits aufgrund seiner formalen Eigenheiten die gesamte wissenschaftliche Philosophie infrage zu stellen scheint, ist Nietzsche geradezu ein Klassiker der jugendlichen intellektuellen Rebellion geworden. Junge Leute, die mit Philosophie in Berührung kommen, berufen sich bis heute gern auf Nietzsche, wenn sie die Autoritäten und das bedächtige, systematische Denken in Zweifel ziehen, wenn sie statt eines betulichen Gelehrten lieber ein sprachgewaltiger Feuerkopf sein möchten.
Doch auch die Inhalte seines umfangreichen und schwer zu klassifizierenden Werks haben Sprengkraft. Wenn man es überhaupt unter ein Schlagwort fassen kann, dann handelt es sich um eine radikale Moral- und Religionskritik. Nietzsche möchte die gesamte abendländische Tradition einer universellen, religiös begründeten, aber rational legitimierbaren Moral, die wir gesellschaftlich und individuell zutiefst verinnerlicht haben, abräumen. Diese Tradition äußert sich etwa in der Vorstellung, dass es gut sei, Mitleid mit Schwachen zu haben, oder allein schon in dem Gedanken, es sei zumindest theoretisch-logisch möglich, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichwertige und gute Menschen seien.
Nietzsche möchte die gesamte abendländische Tradition einer universellen, religiös begründeten Moral abräumen
All diese Ideen sind nach Nietzsche keine notwendige Konsequenz der menschlichen Vernunftausübung, wie es etwa Immanuel Kant (1724–1804) mit seinem kategorischen Imperativ behauptet, der vielen als der Gegenpart zur nietzscheschen Moralkritik gilt. Nein: Die traditionelle Moral ist ein historisches Produkt des Ressentiments schwacher Bevölkerungsgruppen. Es könnte alles ganz anders sein. Und wenn wir Nietzsche folgen, ist es die Aufgabe unseres Zeitalters, den Zusammenbruch dieser Traditionen zu betreiben und aktiv neue Werte zu schaffen, die sie ablösen.
An die Stelle von Mitleid, Gleichheit, Wohlergehen, Nächstenliebe sollen Wille, Macht, amoralische Schaffenskraft treten – und vor allem Lebensbejahung. In einer von »ewiger Wiederkunft« des Gleichen geprägten Welt sollen nicht ferne Fortschrittsziele oder gar ein erhofftes Leben nach dem Tod, sondern Bejahung der Gegenwart, intensives Dasein im Hier und Jetzt das Individuum leiten. Ohnehin ist für Nietzsche jede Erkenntnis perspektivisch und letztlich relativ. Das ganze systematische Gebäude einer objektiv Geltung beanspruchenden Wissenschaft »alter Schule« lehnte er ab.
Es liegt auf der Hand, dass eine Philosophie so radikalen Inhalts, die absichtsvoll unangenehm sein möchte – zudem, wenn sie in so ungewöhnlicher, geradezu aphoristisch-lyrischer Form aufgeschrieben ist –, zu den unterschiedlichsten Interpretationen einlädt. Bis heute berufen sich eigentlich alle radikal rechten politischen Ideologien irgendwie zumindest indirekt auf Nietzsche, obwohl dieser, seit 1869 staatenlos, wenig vom deutschen Nationalismus seiner Zeit hielt.
Eine Art Leitdenker des Militarismus?
Im Ersten Weltkrieg etablierte sich in Großbritannien und den USA die Meinung, Nietzsche sei eine Art Leitdenker des wilhelminischen Militarismus und trage damit sozusagen die Kriegsschuld. Dass im »Zarathustra« der berühmt-berüchtigte »Übermensch« als Personifikation von Nietzsches Überwindung aller abendländischen Traditionen und von Neuschaffung der Kultur aus eigener Kraft auftaucht, hat zu verschiedensten rassistischen Deutungen Anlass gegeben. Für die heutige Zeit kann Nietzsche, ähnlich wie der nur zwölf Jahre jüngere Sigmund Freud (1856–1939), vor allem als ein Pionier psychologischer Kritik der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts gelten sowie als Inspiration und als Stichwortgeber großer Denktraditionen des 20. und 21. Jahrhunderts. Michel Foucault (1926–1984) etwa schloss methodisch an Nietzsche an.
In unserer Epoche scheint der Einfluss traditionell repressiver Autoritäten gegenüber Nietzsches Ära abgenommen zu haben. Wer lässt sich heute noch von patriarchalischen Familienvätern oder gestrengen Pfarrern ein schlechtes Gewissen einjagen, weil er »anders ist als die anderen«? So ist auch der Ansatzpunkt von Nietzsches Kulturkritik heute etwas verdeckt. Stattdessen scheinen sich die Muster von Kraft, Wille, Kreativität und Disziplin, für die Nietzsche plädierte, ihrerseits popularisiert und verselbstständigt zu haben. Doch wenn man sich die merkwürdig unfrohen bis unverhohlen aggressiven Disziplinierungsappelle von Fitness-Influencern und Männlichkeitsgurus so anschaut, kann man den Eindruck bekommen, dass es hier nicht um einen ekstatischen Selbstzweck in Nietzsches Sinne geht, sondern selbst wieder um Repression. Damit gibt es in unserer Zeit anderes, das radikal zu kritisieren wäre, als vor 125 Jahren. Dem würde vermutlich auch Nietzsche selbst – stilvollendet – zustimmen.
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