Die fabelhafte Welt der Mathematik: Verlust + Verlust = Sieg

Im Jahr 1996 machte der spanische Physiker Juan Parrondo eine unglaubliche Entdeckung: Manchmal lassen sich zwei Spiele, die notwendigerweise zum Verlust führen, zu einer Gewinnstrategie vereinen. Dieses spieltheoretische Paradoxon ist nicht nur eine mathematische Kuriosität - inzwischen findet es auch in vielen verschiedenen Forschungsbereichen Anwendung. So lässt sich damit der Lebensstil von Schleimpilzen oder Quallen erklären, zudem könnten Parrondos Erkenntnisse zu wirkungsvolleren Krebstherapien führen.
Um das Paradoxon zu verstehen, stellen Sie sich eine Situation vor, bei der ich Ihnen zwei verschiedene Spiele präsentiere. Beim ersten werfe ich eine Münze, deren Gewichtsverteilung leicht verändert wurde, sodass sie bevorzugt auf einer Seite landet. Sie können daher bloß mit einer Wahrscheinlichkeit von 49,5 Prozent gewinnen. In diesem Fall gebe ich Ihnen einen Euro; sonst zahlen Sie mir den gleichen Betrag. Wenn Sie dieses Spiel »A« langfristig gegen mich spielen, werden Sie zwangsweise Verlust machen, denn pro Spiel müssen Sie mir im Mittel einen Cent zahlen. So weit nichts Besonderes.
Doch es gibt noch ein zweites Spiel »B«, das ein kleines bisschen komplizierter ist: Falls Ihr für das Spiel verfügbare Kapital glatt durch drei teilbar ist, dann drehen Sie an einem Glücksrad, bei dem Ihre Gewinnchance nur 9,5 Prozent beträgt. Ist Ihr Vermögen hingegen nicht durch drei teilbar, dann drehen Sie ein anderes Rad, bei dem Sie mit 74,5-prozentiger Wahrscheinlichkeit siegen. Wieder beträgt der Einsatz einen Euro. Im Durchschnitt machen Sie dabei pro Runde 0,87 Cent Verlust.
Zwei Spiele, die man nur verlieren kann
Für die Spiele A und B lässt sich jeweils der Erwartungswert berechnen. Im ersten Fall machen Sie im Schnitt pro Runde einen Cent Verlust: 0,495 – 0,505 = –0,01. Für das zweite Spiel B fällt die Rechnung jedoch komplizierter aus. Denn die Wahrscheinlichkeit dafür, welches Rad gedreht wird, hängt vom verfügbaren Kapital ab, das wiederum vom Drehen des Rads beeinflusst wird.
Man könnte vielleicht annehmen, dass in einem Drittel der Fälle das für Sie ungünstige Rad und in zwei Drittel der Fälle das andere Rad gedreht wird. Das ist aber falsch, denn Ihr Kapital schwankt nicht auf gleichverteilte Weise. Beträgt Ihr Kapital zum Beispiel 9 Euro, dann drehen Sie am ungünstigen Rad und werden wahrscheinlich verlieren, sodass Sie anschließend nur noch 8 Euro besitzen. In diesem Fall spielen Sie aber das für Sie günstigere Rad und haben eine höhere Chance, zu gewinnen. Sie landen dann also wieder bei 9 Euro.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie ein Kapital besitzen, das durch drei teilbar ist, beträgt demnach deutlich mehr als ⅓. Mit Hilfe eines komplizierten Verfahrens, das als Markov-Kette bezeichnet wird, lässt sich berechnen, dass Ihre Gewinnwahrscheinlichkeit für Spiel B bloß 49,565 Prozent beträgt – und Ihr erwarteter Gewinn pro Runde negativ ist: 0,49565 – 0,50435 = –0,0087.
Wenn Sie clever sind, würden Sie weder bei Spiel A noch bei Spiel B gegen mich antreten. Denn in beiden Fällen werden Sie auf Dauer zwangsläufig verlieren. Wie Parrondo jedoch erkannte, kann sich eine Mischstrategie lohnen: Wenn Sie zwischen den Spielen A und B wechseln, können Sie insgesamt einen Gewinn davontragen.
Wenn Sie zum Beispiel stets zwei Runden des Spiels A spielen und anschließend zwei Runden des Spiels B (also AABBAABBAA…), dann gewinnen Sie im Mittel 1,48 Cent pro Runde. Oder wenn Sie auf eine A-Runde je zwei B-Runden folgen lassen (ABBABBABB…), erwirtschaften Sie im Schnitt 5,8 Cent pro Runde. Langfristig würden Sie in beiden Fällen also ein Plus verzeichnen.
Wie Parrondo herausfand, gibt es insgesamt mehr Kombinationen aus A und B, die für Sie einen positiven Erwartungswert haben als umgekehrt. Deshalb gehen Sie sogar dann als Gewinner hervor, wenn Sie in jeder Runde zufällig auswählen, ob Sie A oder B spielen (indem Sie zum Beispiel eine ungezinkte Münze entscheiden lassen). In diesem Fall beträgt Ihr mittlerer Gewinn 1,47 Cent pro Runde.
Aber wie lässt sich das erklären? Entscheidend für das Parrondo-Paradoxon ist, dass sich die beiden Spiele A und B gegenseitig beeinflussen. Dafür verantwortlich ist die Bedingung, dass die Auswahl der Glücksräder in Spiel B vom Kapital abhängt. Denn der Wert des Kapitals wird auch durch den Ausgang von Spiel A bestimmt. Deshalb lassen sich A und B nicht mehr als unabhängige Spiele ansehen. Das ist der Kern des Parrondo-Paradoxons.
Würde man Spiel B so abwandeln, dass zum Beispiel der Wert eines Würfels entscheidet, an welchem Glücksrad Sie drehen, dann verschwindet das Paradoxon. Denn beide Spiele sind in diesem Szenario völlig unabhängig voneinander: Der Ausgang des einen beeinflusst nicht den des anderen. Falls in diesem Fall Spiel A und B jeweils ungünstig für Sie ist, dann ist auch jede erdenkliche Kombination beider Spiele für Sie nachteilig.
Anwendungen des Parrondo-Paradoxons
Seit Parrondos überraschender Veröffentlichung im Jahr 1996 sind zahlreiche Arbeiten zu dem Thema erschienen. So haben zwei Biologen im Jahr 2017 gezeigt, dass das Parrondo-Paradoxon den Lebensstil von Quallen oder Schleimpilzen erklären kann, die zwischen einem einsamen nomadischen Leben und einer stationären Kolonie hin und her wechseln.
Würden die Lebewesen nur als einsame Wanderer existieren, hätten sie keine Zukunft und würden auf Dauer aussterben. Deswegen finden sie sich zu Kolonien zusammen - doch auch diese können sich nicht langfristig bewähren. Die Organismen beuten ihre Umwelt aus, und irgendwann versiegen die Ressourcen. Beide unterschiedlichen Lebensweisen führen also unweigerlich zum Tod. Deshalb verfolgen die Lebewesen eine Mischstrategie: Sie finden sich an einem Ort zusammen und werden anschließend zeitweise mobil, während sich die Umwelt regenerieren kann.
Eine andere Anwendung des Parrondo-Paradoxons haben Forschende um die Computerphysikerin Jian-Yue Guan von der chinesischen Universität Lanzhou im August 2025 vorgestellt. Demnach könnte ein Wechselspiel zweier unterschiedlicher Krebstherapien zu besseren Ausgängen führen.
Bei vielen Krebsarten werden zwei verschiedene Ansätze der Chemotherapie verfolgt: Entweder erhalten die Erkrankten in bestimmten Abständen die maximal verträgliche Dosis oder sie werden dauerhaft mit einer niedrigen Dosierung behandelt. Die erste Strategie hat den Nachteil, dass einige Tumorzellen Resistenzen bilden und dadurch nicht auf die Medikation reagieren. Bei der zweiten Strategie ist die Wirkstoffkonzentration nicht hoch genug, um alle Krebszellen vollständig zu beseitigen.
Deswegen könnte sich ein adaptives Verfahren lohnen, bei dem beide Ansätze abgewechselt werden. Bislang wird die adaptive Strategie allerdings nur selten verfolgt, da sie mit viel Aufwand einhergeht: Medizinerinnen und Mediziner müssen regelmäßig die Krebszellen der Patienten untersuchen, um den Fortschritt der Erkrankung zu modellieren und aus diesen Informationen die Therapie anzupassen.
Doch Guan und ihr Team haben durch Computersimulationen nahegelegt, dass sich das Parrondo-Paradoxon ausnutzen ließe: Ein Wechsel zwischen den beiden Medikationsansätzen zu festgelegten Zeiten könnte selbst ohne eine detaillierte Überwachung zu besseren Ergebnissen führen - ganz ähnlich, wie im Gewinnspielbeispiel bereits eine zufällige Reihenfolge von A und B vorteilhaft ist.
Ob sich der spieltheoretische Ansatz wirklich in der Krebsmedizin anwenden lässt, muss noch genauer untersucht werden. Guan und ihr Team planen nun, ihre computergestützten Erkenntnisse durch In-vitro-Studien zu testen.
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