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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines zerstörten Lebens und 100 geretteter

1938 machte die Schweiz die Grenzen für Juden aus dem Nachbarland dicht. Ein Schweizer Grenzpolizist wollte sich nicht daran halten. Was er tat, erzählen Hemmer und Meßner.
Geflüchtete im Lager Diepoldsau

Kaum war im März 1938 der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich erfolgt, begannen auch hier die Nazis Menschen zu verfolgen. Insbesondere Jüdinnen und Juden wurden mit Gewalt und bürokratischen Schikanen zur Flucht ins Ausland gezwungen. Doch wer sich zur Flucht entschloss, musste oftmals feststellen, dass es kaum eine Möglichkeit gab, das Land zu verlassen.

Ein Weg aus Österreich heraus bot sich im Vorarlberg. Schon einen Monat später sammelten sich im angrenzenden Ostschweizer Kanton Sankt Gallen an die 4000 österreichische Flüchtlinge, denen die Ausreise geglückt war. Wie zuletzt bei der europäischen Flüchtlingskrise 2015 machte sich in der Schweiz Angst vor einer vermeintlichen Masse an Geflüchteten breit.

Immer lauter wird der Ruf nach einer Abriegelung. Die 4000 Geflüchteten werden in Diepoldsau in ein Lager gebracht, das von der Israelitischen Gemeinde Sankt Gallen finanziert wird. Die Schweizer Justiz hatte sie dazu gezwungen.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Einer, der diese Angst vor den flüchtenden Nachbarn zu spüren bekommt, ist Hauptmann Paul Grüninger. Als Grenzbeamter hat er die Aufgabe, die Grenzübertritte aus Österreich zu kontrollieren und auch einzudämmen. Am 17. August 1938 nimmt er an einer Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren teil. Es geht darum, die Grenzen noch besser dicht zu machen. Doch Grüninger legt Widerspruch ein. Als einer von zwei Teilnehmern spricht er sich gegen Verschärfungen aus. Er findet, die Rückweisung der Flüchtlinge sei schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht möglich. Außerdem würden sich legal Einreisende besser lenken lassen als illegale Grenzübertritte. Doch sein Einwand findet kein Gehör: Nur zwei Tage später schließen sich die Grenzen für alle ohne Visum. Wer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung im Land ist, soll ausgewiesen werden.

Grüninger findet kreative Umwege

Grüninger widersetzt sich zunächst leise und vereinzelt. Er erlaubt Geflüchteten den Aufenthalt, die er laut Vorschrift zurückweisen müsste. Die Verschärfungen will er nicht mittragen, auch wenn er eigentlich dazu gezwungen ist. Um nicht weiter »dicht machen« zu müssen, findet er kreative Möglichkeiten.

Als beispielsweise ein 13-Jähriger aus Wien im Lager in Diepoldsau landet und einen Brief an Grüninger schreibt, in dem er die mehrmals missglückten Fluchtversuche seiner gehörlosen Eltern schildert und um Visa bittet, erhält er offiziell eine Absage. Dann aber holt Grüninger über eine amtliche Vorladung die Eltern in seine Dienststelle in Sankt Gallen zur Einvernehmung. So bringt er sie sicher in Schweiz und kümmert sich um ihre Aufenthaltsbewilligung.

Er fälscht nicht nur Dokumente wie Identitätsnachweise, sondern schreibt sogar Einladungen mit Einreiseerlaubnis nach Dachau, um dort Inhaftierte freizubekommen. Registriernummern verwendet er mehrfach, um die Zahlen zu frisieren. Er übernimmt Geld von illegal Geflüchteten, um es ihnen dann hinter der Grenze wiederzugeben. Und er fährt sogar mit dem Dienstwagen auf Rettungsmissionen. Um illegale Flüchtlingstransporte und Unterbringung zu ermöglichen, arbeitet er teilweise mit Mitgliedern der Israelitischen Gemeinde und der Schweizer Bevölkerung zusammen: Ein ganzes Netzwerk agiert im Verborgenen.

Sein Wirken fliegt auf

Leider nicht verborgen genug: Es spricht sich herum, dass man sich an Polizeikommandant Grüninger wenden kann. Auf einen brieflichen Hinweis im März 1939 wird er am 3. April vernommen. Tragischerweise helfen auch jüdische Vertreter der Flüchtlingshilfe, ihn aufzudecken. Unter anderem ist die Angst groß, dass sich die Schweizer Bevölkerung gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger im eigenen Land richten könnte, wenn immer mehr Geflüchtete über die Grenze kommen. Grüninger legt ein Teilgeständnis ab, schreibt aber noch an den Gesamtregierungsrat, er habe aus rein menschlichen Motiven gehandelt. Er hat Glück im Unglück: Sein Mut kostet ihn nur Karriere und Ansehen. Schon im Mai 1939 entlässt man ihn fristlos, was unter anderem bedeutet, dass auch sein Pensionsanspruch entfällt.

Das Urteil wurde erst Ende des darauf folgenden Jahres gefällt: Grüninger wurde der Amtspflichtverletzung, der Mitteilung falscher Einreisedaten und Abgabe falscher Auskunftsdaten an deutsche Behörden schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt. Zeit seines Lebens fand er keine feste Anstellung mehr, Grüninger musste sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Seine ganze Familie litt unter den Folgen des sozialen Abstiegs.

Der Krieg endete 1945. Mit seiner Aufarbeitung ließen sich viele der europäischen Staaten aber noch lange Zeit. Erst 1970 erfährt Paul Grüninger etwas wie moralische Rehabilitierung. Er erhält einen Dankesbrief der Sankt Gallener Regierung. Entschädigung erhält er nicht, auch nicht in Form einer Rente, dafür aber einen Farbfernseher vom deutschen Bundespräsidenten. Erst wenige Monate vor seinem Tod am 22. Februar 1972 wird Grüninger vom Staat Israel als ein »Gerechter unter den Völkern« ausgezeichnet: ein Ehrentitel für nichtjüdische Personen, die während der NS-Zeit Jüdinnen und Juden vor dem Tod retteten.

Paul Grüninger (1891-1972) | Im Jahr seines Todes 1972 erhielt Grüninger die Anerkennung als »Gerechter unter den Völkern« vom Staat Israel.

Ein Journalist gräbt den Fall aus

Seine Nachkommen mussten noch länger warten. 1993 veröffentlicht der Historiker und Journalist Stefan Keller sein Buch »Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe«, das maßgeblichen Anteil an der folgenden Rehabilitierung Grüningers haben wird.

Grüningers Verurteilung wird 1995 aufgehoben, 1998 erhalten seine Nachkommen endlich eine Wiedergutmachung in Höhe von 1,3 Millionen Franken und gründen die Paul Grüninger Stiftung für Menschenrechte. Einige Ehrungen folgten, zum Beispiel trägt heute ein Platz in Sankt Gallen seinen Namen, ebenso wie das Stadion des Fußballklubs Brühl, dessen Spieler und Präsident er zeitweise war. Schließlich wurde auch im Jahr 2012 die Grenzbrücke zwischen Hohenems und Diepoldsau nach Grüninger benannt.

Zurück bleibt ein ähnlich schaler Geschmack, wie ihn heute oft auch die Asyl- und Flüchtlingspolitik reicher Staaten hervorruft: Wenn nicht die unmenschliche Politik auf der Anklagebank sitzt, sondern Menschen, die es verweigern, sich an unmenschliche Vorgaben zu halten. Ganz wie Paul Grüninger.

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