Direkt zum Inhalt

Freistetters Formelwelt: Die Mathematik der 1000 Tode

Das Leben ist gefährlich und führt früher oder später zum Tod. Aber nicht alles ist mit dem gleichen Risiko behaftet. Zum Glück kann man auch die scheinbar geringen Gefahren mathematisch behandeln.
Eine Giraffe balanciert auf einen Seil
Mit Mathematik lassen sich Risiken besser abschätzen

1980 schrieb der US-amerikanische Forscher Ronald A. Howard einen Aufsatz mit dem viel versprechenden Titel »On Making Life and Death Decisions«. Darin präsentiert er gleich zu Beginn ein Gedankenexperiment, das sich mit so einer »Leben oder Tod«-Entscheidung beschäftigt. Angenommen, man würde aufgefordert, eine Pille zu nehmen, die mit einer Wahrscheinlichkeit p zum sofortigen Tod führt – dafür aber eine Menge x an Geld erhalten. Welche Wahrscheinlichkeit würde man dann in Bezug auf welche Summe akzeptieren? Howard leitet folgende Formel ab:

Sie beschreibt die maximale Wahrscheinlichkeit, die niemand mehr zu akzeptieren bereit ist – selbst wenn der versprochene Betrag gegen unendlich geht. Die Gleichung hängt von den Lebenshaltungskosten c, der Lebenserwartung l und der noch verbleibenden Lebenserwartung ī ab und den Faktoren γ und η, die Risikotoleranz und Konsumverhalten beschreiben. Im weiteren Verlauf der Arbeit beschäftigt sich Howard mit subtileren Risiken des Lebens.

Zum Beispiel: Was ist gefährlicher – eine Zigarette zu rauchen oder einen Marathon zu laufen? Vermutlich würden die meisten eine sportliche Betätigung für ungefährlicher halten als Tabakkonsum. Aber: Auch wenn regelmäßige Bewegung durchaus gesund ist, muss das nicht unbedingt für einen mehr als 42 Kilometer langen Dauerlauf gelten. Rauchen ist zwar erwiesenermaßen gesundheitsschädlich, doch gilt das auch schon für eine einzige Zigarette?

Ist ein Marathon gefährlicher als eine Zigarette?

Um solche kleinen Risiken besser darzustellen, hat Howard den Begriff »Mikromort« eingeführt: Eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, an etwas Bestimmtem zu sterben. Für einen Marathonlauf muss man etwa 7 Mikromorts einplanen; eine einzelne Zigarette zu rauchen dagegen entspricht bloß 0,7 Mikromort. Mit einer Chance von eins zu einer Million kann auch der Konsum eines halben Liters Wein eine Leberzirrhose auslösen, die später zum Tod führt; die gleiche Wahrscheinlichkeit für den Tod hat man bei einer zehn Kilometer langen Fahrt mit dem Motorrad (sollte man zuvor noch den halben Liter Wein getrunken haben, lassen sich die Wahrscheinlichkeiten allerdings nicht einfach addieren).

Man kann daraus natürlich nicht schließen, dass Rauchen besser ist, als einen Marathon zu laufen. Aber für die Risikokommunikation können solche Einheiten durchaus sinnvoll sein. Der britische Statistiker David Spiegelhalter hat in Bezug auf Howards Arbeit den Begriff »Mikroleben« (microlife) populär gemacht. Die durchschnittliche Zeit, die man als erwachsener Mensch verbringt (57 Jahre), entspricht zirka einer Million halber Stunden. Der Verlust oder Zugewinn einer Lebenserwartung von einer halben Stunde pro Tag hat Spiegelhalter daher als ein »microlife« definiert. Zwei Stunden faul vor dem Fernsehapparat sitzen entspricht ziemlich genau dem Verlust eines Mikrolebens – wenn man danach allerdings 20 Minuten moderate sportliche Betätigung anhängt, kann man das durch den Gewinn von zwei Mikroleben wieder ausgleichen.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Tatsache, dass wir zu Beginn des 21.  Jahrhunderts leben und nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat uns immerhin 15 Mikroleben eingebracht. Wer sich daran stört, kann sich mit dem Konsum von 30 bis 40 Zigaretten pro Tag wieder auf die Lebenserwartung von 1910 zurückrauchen.

Wir Menschen sind schlecht darin, Risiken einzuschätzen und Wahrscheinlichkeiten zu interpretieren. Wenn man jedoch erfährt, dass eine Corona-Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff einem Risiko von knapp 3 Mikromort entspricht; eine Covid-Infektion bei Erwachsenen (je nach Alter) ein paar hundert bis ein paar zehntausend Mikromort, dann sollte klar sein, welche Entscheidung tatsächlich riskant ist und welche nicht.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.