Freistetters Formelwelt: Das Arbeitspferd der Mathematik

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Bei meiner Arbeit als Astronom habe ich nicht durch Teleskope geschaut. Ich habe keine beeindruckenden Bilder kosmischer Objekte gemacht und keine neuen Himmelskörper entdeckt. Stattdessen habe ich mich mit Formeln beschäftigt, die so aussehen:
Diese fünf Gleichungen beschreiben ein Verfahren, mit dem man gewöhnliche Differenzialgleichungen numerisch lösen kann. Das ist in der Wissenschaft erstaunlich oft notwendig. Entweder, weil die Gleichungen, an denen man interessiert ist, nur sehr kompliziert zu lösen sind und man mit einer einfachen Näherung versucht, einen ersten Eindruck ihres Verhaltens zu bekommen. Oder aber weil die Gleichungen gar nicht exakt gelöst werden können.
Das war in meinem Forschungsgebiet der Fall, das sich um die Bewegung der Himmelskörper drehte. Will man zum Beispiel wissen, wo sich Planeten, Asteroiden oder andere Objekte in Zukunft befinden, dann kann man das nur mit Computerunterstützung berechnen. Die exakte Lösung y(t) einer Differenzialgleichung wird schrittweise genähert und es gibt zahlreiche Methoden dafür. Eine der erfolgreichsten haben die deutschen Mathematiker Carl Runge und Wilhelm Kutta um das Jahr 1900 entwickelt.
Eines der frühesten und einfachsten Verfahren, um solche Gleichungen zu lösen, stammt jedoch aus dem 18. Jahrhundert. Leonhard Euler näherte hierbei die Lösung durch einen Polygonzug: Er berechnete die Steigung der rechten Seite der Gleichung in einem Punkt und benutzte sie als Näherung, um einen kleinen Schritt in diese Richtung weiterzugehen. Dabei ergibt sich eine Ungenauigkeit, die sich allerdings verringern lässt, wie Runge und Kutta herausgefunden haben.
Schritt für Schritt zur Lösung
Anstatt gleich einen ganzen Schritt vorwärtszugehen, taucht man bildlich gesprochen erst mal vorsichtig einen Zeh ins Wasser. Man macht einen »Testschritt« zum Mittelpunkt des durch die Schrittweite h vorgegebenen Intervalls und berechnet die Lösung von dort aus. Noch genauer wird es, wenn man mehrere solcher Stützstellen einbaut. Die in der Praxis am häufigsten verwendete Form ist die mit den vier Zwischenschritten, die in der obigen Formel angegeben sind.
Dieses vierstufige Runge-Kutta-Verfahren hat Wilhelm Kutta in seiner Dissertation entwickelt, basierend auf den allgemeineren Ansätzen zur Lösung numerischer Gleichungen von Carl Runge aus dem Jahr 1895. Die Methode wird oft als »RK4« bezeichnet und fast überall eingesetzt, wo Differenzialgleichungen zu lösen sind. Oder, wie es im Klassiker »Numerical Recipes« (ein Buch, das vermutlich alle kennen, die sich ein wenig intensiver mit numerischer Mathematik beschäftigt haben) heißt: »Für viele wissenschaftliche Anwender ist das Runge-Kutta-Verfahren vierter Ordnung nicht nur das erste Wort bei [der Integration], sondern zugleich auch das letzte.« Die Autoren der »Recipes« bezeichnen Runge-Kutta als »altes Arbeitspferd« und vergleichen die Methode mit genaueren Verfahren wie der Bulirsch-Stoer-Integration: »Diese Methoden sind die hochgezüchteten Rennpferde. Runge-Kutta ist fürs Pflügen der Felder da.«
Doch auch die Felder der numerischen Mathematik müssen gepflügt werden – und mit RK4 kann man erstaunlich weit kommen. Die Methode ist flexibel und so gut wie überall anwendbar. So lässt sich die Schrittweite automatisch anpassen und damit die Genauigkeit noch weiter steigern. Oder, um erneut die »Numerical Recipes« zu zitieren: »Selbst das alte Arbeitspferd wird mit neuen Hufeisen flinker.«
Es würde zu weit führen, alle relevanten Anwendungen von Runge-Kutta in Forschung und Technik aufzuzählen. Aber man hat sie zum Beispiel bei der NASA verwendet, um zum Mond zu fliegen. Nicht schlecht für ein altes Arbeitspferd.
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