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Springers Einwürfe: Forscher im Krieg

Sollen Fachleute von der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ausgeschlossen werden, weil ihr Regime einen Angriffskrieg führt?
Friedensdemo am 13.3.2022 in Köln

Anno 1880 verkörperte ein englischer Grundstücksverwalter namens Charles Cunningham Boycott besonders provokant die Fremdherrschaft der Engländer über irischen Grund und Boden. Gegen ihn organisierte der Nationalistenführer Charles Stewart Parnell gewaltlosen Widerstand: Boycott fand keine heimischen Erntearbeiter mehr und verließ schließlich Irland.

Seither ist der Name des Engländers synonym für Aktionen, mit denen Institutionen oder ganze Staaten, die sich durch ihr Verhalten ins Unrecht setzen, sanktio­niert werden. Indem man sie boykottiert, sucht man ihnen wirtschaftlich zu schaden und stellt sie zugleich moralisch an den Pranger.

Anlässlich des Überfalls Russlands auf die Ukraine kam es zu umfangreichen Maßnahmen dieser Art. Spontan wurden russische Sängerinnen, Dirigenten und Musiker ausgeladen, man nahm russische Komponisten – lebende und tote – aus dem Programm. Russische Behindertensportlerinnen und -sportler wurden ausgeschlossen.

Auch im Wissenschaftsbereich fand Ausgrenzung statt. Die Europäische Kernforschungsorganisation CERN kündigte die Kooperation mit Russland und Belarus auf, ähnlich die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen. Fachzeitschriften wie das »Journal of Molecular Structure« lehnten Artikel von Autorinnen und Autoren an russischen Institutionen unter Hinweis auf den Krieg in der Ukraine ab.

Ob solche Maßnahmen das Putin-Regime beein­drucken, darf bezweifelt werden. In jedem Fall fügen sie der internationalen Forschung Schaden zu, ganz besonders im Klima- und Weltraumbereich.

Zwiespältige historische Bilanz

Der Wissenschaftshistoriker Michael D. Gordin von der Princeton University ließ im Mai 2022 ein Jahrhundert einschlägiger Boykotts Revue passieren und zog eine äußerst zwiespältige, wenn nicht negative Bilanz. Nur die akademische Ächtung des südafrikanischen Apartheid-Regimes habe vielleicht einiges zu dessen Ende beigetragen. Hingegen sei die russische Wissenschaft schon vor dem Ukraine-Krieg nur ein Schatten der vormaligen sowjetischen gewesen, so Gordin; sie wäre seit Jahren chronisch unterfinanziert und habe unter dem Brain Drain durch Emigration russischer Fachleute in den Westen schwer gelitten. Putins System zeichne sich zudem durch Geringschätzung der Grundlagenforschung aus; das habe die apathische Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt. Deshalb müsse ein Wissenschaftsboykott gegen Russland ins Leere laufen.

Inmitten eines Kriegs ist moralische Empörung sowie der Wunsch, den Angreifer zu ächten, nur zu verständlich. Dennoch, so finde ich, sollte man sich über die Zeit danach Gedanken machen. Sobald das Töten aufhört, wird jeder Geduldsfaden, jeder Anknüpfungspunkt lebenswichtig sein, um zerstörte Brücken wieder zu erneuern. Und dazu gehören nun einmal kul­turelle und wissenschaftliche Kontakte. Je mehr davon im Lauf des Kriegs zu Bruch geht, desto schwieriger wird es, den Frieden zu gewinnen.

Wenn in Europa endlich die Waffen schweigen, wird sich die öffentliche Aufmerksamkeit wieder dem globalen Konflikt mit China zuwenden. In den letzten Jahren haben die USA begonnen, nicht nur Handelshindernisse aufzubauen, sondern die wissenschaftliche Kooperation mit China wenn nicht geradeheraus zu unterbinden, so doch erheblich einzuschränken. In den USA tätige chinesische Forscher wurden pauschal verdächtigt, Spionage für Peking zu treiben. Seither ist die Anzahl der Akademiker, die sowohl chinesischen als auch amerikanischen Institutionen angehören, um ein Fünftel gesunken.

Beginnt sich in der Sphäre von Wissenschaft und Technik ein – vorerst kalter – Krieg mit China anzubahnen? Dagegen wäre der Boykott russischer Forschung eine Lappalie.

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