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Freistetters Formelwelt: Eine kaum bekannte Eigenschaft von Zahlen

Der Satz von Midy ist den wenigsten bekannt. Dabei legt er eine faszinierende Struktur von Bruchzahlen offen.
Ein abstraktes Bild mit leuchtenden, weißen Zahlen, die in einem Wirbelmuster auf einem verschwommenen, bläulichen Hintergrund schweben. Die Zahlen scheinen in Bewegung zu sein und erzeugen einen dynamischen, fast hypnotischen Effekt. Die Darstellung vermittelt ein Gefühl von Unendlichkeit und Komplexität, das an mathematische oder digitale Konzepte erinnert.
In den Ziffern von Dezimaldarstellungen von Bruchzahlen verbergen sich erstaunliche Muster.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Ziffern und Zahlen sind nicht dasselbe. Darüber, was eine Zahl genau ist, diskutiert die Mathematik zusammen mit der Philosophie bis heute. Bei Ziffern ist die Sache dagegen ziemlich klar: Es sind Zeichen, die verwendet werden, um eine Zahl darzustellen. Wir verwenden heute meistens das Dezimalsystem; dort gibt es die zehn Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9. Es gibt keinen mathematischen Grund, sich genau darauf festzulegen. Die grundlegenden Erkenntnisse der Mathematik lassen sich ebenso mit anderen Ziffern und Ziffernsystemen gewinnen.

Aber wenn wir uns auf das Dezimalsystem konzentrieren, dann hat die Mathematik natürlich auch dazu etwas zu sagen. Zum Beispiel in Form des Satzes von Midy:

Wir betrachten hier einen vollständig gekürzten Bruch a/p, wobei p eine Primzahl ist. Da es sich um eine rationale Zahl handelt, muss ihre Dezimaldarstellung periodisch sein. Der Satz von Midy gilt genau dann, wenn diese Periode eine gerade Anzahl von Stellen hat. Teilt man die Ziffernfolge der Periode in der Mitte in zwei Hälften und addiert die durch die zwei Gruppen an Ziffern dargestellten Zahlen, dann erhält man einen Wert, der nur aus Neunen besteht.

Ein Beispiel macht die Sache anschaulich. Die kleinste Zahl p, für die der Satz von Midy gilt, ist 7. Die Dezimaldarstellung von 1/7 ist 0,142857142857… Sie hat also eine Periode von sechs. Die erste Hälfte der Ziffern der Periode liefert die Zahl 142, die zweite Hälfte ist 857. Rechnet man nun 142 + 857, ergibt das 999. Wie lang die Periode dabei ist, spielt keine Rolle. Im Fall von 1/23 = 0,0434782608695652173913… hat die Periode etwa eine Länge von 22 Stellen und 04347826086 + 95652173913 ergibt 99999999999.

Diese überraschende Eigenschaft hat der französische Mathematiker Étienne Midy 1836 in seiner Arbeit »De Quelques Proprietes des Nombres et des Fractions Decimales Periodiques« veröffentlicht. Sein Ergebnis blieb lange Zeit unbeachtet und wurde erst gut 100 Jahre später in dem Buch »History of the Theory of Numbers« des US-amerikanischen Mathematikers Leonard Eugene Dickson wieder erwähnt.

Ein lange verborgener Schatz

Und es dauerte noch ein wenig länger, bis der Satz von Midy erweitert wurde. 2004 hat Brian Ginsberg, damals noch Student an der Universität Yale, gezeigt, dass es auch funktioniert, wenn die Periode in drei gleiche Teile aufgeteilt werden kann. Für p = 1/7 kann man auch 14 + 28 + 57 = 99 rechnen. Genauso ergibt sich aus 1/13 = 0,076923… die Rechnung 07 + 69 + 23 = 99. Ginsbergs erweiterter Satz von Midy gilt für alle Brüche der Form 1/p mit einer durch drei teilbaren Periodenlänge.

Dieses Ergebnis war der Anstoß für eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema. Man konnte sogar zeigen, dass die Eigenschaft der rationalen Zahlen gar nicht direkt mit dem Dezimalsystem zusammenhängt. Joseph Lewittes fand 2006 heraus, dass der Satz auch in anderen Basen funktioniert und sogar in Zahlensystemen mit nicht ganzzahligen Basen.

Es ist interessant, dass sich die Zahlen auf jene Weise verhalten. Aber man ist trotzdem versucht, die Frage zu stellen: Wozu soll das alles gut sein? Nur ist das natürlich eine Frage, die in der Grundlagenforschung allgemein und insbesondere in der Zahlentheorie völlig unangebracht ist. Joseph Lewittes hat das am Ende seiner Arbeit zum Satz von Midy so ausgedrückt: »Midys Theorem und seine Erweiterungen verdienen es, bekannter zu sein, und haben ohne Zweifel ihren Platz in der elementaren Zahlentheorie. Diese Muster in den Dezimalentwicklungen rationaler Zahlen geben einen unerwarteten Einblick in den Reiz und die innere Struktur mathematischer Objekte. Viele Fragen und bislang unerforschte Wege warten noch darauf, untersucht zu werden.«

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