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Sex matters: Sollten wir uns beim Sex weniger schämen?

Einer schambefreiten Sexualität kann der Sexualtherapeut Carsten Müller wenig abgewinnen. Er empfiehlt, auf Schamgefühle so zu achten wie auf Stoppschilder im Straßenverkehr. Eine Kolumne.
Symbole für Scham vor rotem Plüsch
Scham hat Signalfunktion: einmal kurz innehalten und überlegen, wie es weitergehen soll.

Neulich bin ich auf Instagram bei dem Post einer Influencerin hängen geblieben. Sie hat dafür plädiert, sich von allen Schamgefühlen zu befreien. Das wäre die einzig wahre Art und Weise, Sexualität lustvoll und selbstbestimmt zu erleben. Schon beim Lesen habe ich einen inneren Widerstand gespürt und gemerkt: Das sehe ich ganz anders.

Scham ist ein mächtiges Gefühl. Wir werden rot, uns wird heiß, auf einmal ist da jede Menge Unsicherheit. Erst recht, wenn die Scham im Zusammenhang mit Sexualität auftritt. Darüber zu reden ist extrem unangenehm. Wann haben Sie das letzte Mal zugegeben, dass Sie sich für etwas geschämt haben? Vermutlich ist das lange her. Es fällt den meisten Menschen deutlich leichter, über Wut, Freude oder Enttäuschung zu sprechen. Aber Scham? Die verstecken wir lieber.

Sexualität ist oft schambesetzt. Das ist durchaus logisch. Die meisten Leute möchten sich in intimen Momenten nicht von Fremden beobachten lassen. Sie zeigen sich einem oder mehreren Menschen, denen sie auf einer Gefühlsebene verbunden sind. Intimität ist so gesehen die positive Seite der Scham. Doch es gibt auch schambesetzte Bereiche, die viel mehr mit einem gesellschaftlichen Bild von Geschlechtlichkeit zu tun haben als mit dem Grundbedürfnis nach einem geschützten Raum für Intimität.

Schon die deutsche Sprache diktiert, was mit Scham behaftet sein sollte. Wir reden zum Beispiel von Schamlippen, während man im Englischen schlicht von »labia« für Lippen spricht, im Französischen von »grandes lèvres« und »petites lèvres«, den großen und den kleinen Lippen. Ob sich die Engländerinnen und Französinnen für sie wohl weniger schämen?

Wofür wir uns schämen

Grundsätzlich betrifft Scham jeden. Aber nach meiner Erfahrung unterscheiden sich die Gründe. Frauen schämen sich häufig für ihre Fantasien oder ihre eigene Lust. Denn die Gesellschaft erwartet immer noch, dass Frauen sich zügeln. Sich die Herkunft der Scham bewusst zu machen, kann helfen: Welche Glaubenssätze stehen hinter dem Gefühl? Sobald einer Klientin klar wird, dass es sich dabei um ziemlich veraltete gesellschaftliche Normen handelt, löst sich etwas.

Bei Männern erlebe ich eher, dass sie sich für ihre sexuelle Performance schämen oder dafür, dass sie weniger Sex haben als andere. Manche schämen sich auch für die Penisgröße oder für ihr Aussehen. In solchen Fällen rede ich mit den Klienten darüber, dass Idealbilder von Sexualität sehr wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ich versuche die Verzerrung aufzulösen.

Neulich war ein Klient bei mir in der Beratung, der früher gern in die Sauna ging. Aber irgendwann fühlte er sich dort nicht mehr wohl. Auch bei sexuellen Aktivitäten im Tageslicht war er unsicher. Ich habe ihn gefragt, woran das liegen könnte. Seine Frau war dabei, und wir sind in dieser Sitzung nicht zum Kern der Sache gekommen. Das passierte später, in einem Einzelgespräch. Wir haben versucht, seiner Unsicherheit auf den Grund zu gehen: Könnte es sein, dass er sich schämt? Er dachte kurz nach und stimmte zu. Er fand sich nicht mehr so attraktiv wie früher, als er jünger und schlanker war. Es war seine eigene Vorstellung von einem idealen Körper, der er nicht mehr entsprach.

Erwartungen und Idealvorstellungen sind etwas, worüber ich regelmäßig mit Klienten rede, die sich schämen. Scham kann daraus entstehen, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, zum Beispiel, wenn wir jemandem Leid zugefügt oder ihn belogen haben. Sie kann jedoch auch daher rühren, dass wir den moralischen Vorstellungen anderer Menschen nicht genügen oder nicht in eine gesellschaftliche Norm passen. Etwa beim Thema Schambehaarung: Ist es wirklich der eigene Wunsche, glatt rasiert zu sein, oder machen wir das bloß, weil andere das von uns erwarten könnten? Auch die eigene Biografie und erlernte Glaubenssätze spielen dabei eine Rolle. Wenn Jugendliche von den Eltern hören, dass Oralsex oder Analsex »schmutzig« sei, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich als Erwachsene dabei schämen.

Scham ist wertvoll, weil sie uns zeigen kann, wo mögliche Grenzen liegen

Der Aussage der Influencerin, die sich eine komplett schambefreite Sexualität wünscht, kann ich trotzdem nur bedingt etwas abgewinnen. Ich bin froh, dass es Schamgefühle gibt. Denn sie können als Signal dienen, als eine Art Stoppschild. Wenn ich an eine Kreuzung komme, an der ein solches Schild steht, trete ich nicht unbeirrt aufs Gas. Ich bleibe stehen, schaue rechts und links und entscheide, wann ich in welche Richtung weiterfahre. Will ich Analsex einfach mal ausprobieren, egal, was mir eingetrichtert wurde? Dann einfach geradeaus weiter. Aber mein Schamgefühl sorgt dafür, dass ich kurz innehalte und überlege, ob ich mich aus meiner Komfortzone herausbewegen und meine Grenzen erweitern möchte.

Das funktioniert, wenn die Rahmenbedingungen gut sind. Mit einem Menschen, dem ich vertraue, kann ich Neues wagen. Vielleicht eine Spielart von Sexualität, die für mich bislang immer tabu war. Egal, wie die individuelle Entscheidung ausfällt: Am Ende geht es darum, für sich den richtigen Weg zu finden. Deswegen möchte ich auch der Influencerin sagen, dass Scham im Grunde ein wertvolles Gefühl ist. Weil sie uns zeigen kann, wo mögliche Grenzen liegen, und weil sie uns hilft zu entscheiden, wo wir weitergehen wollen.

Der Klient, der sich für seinen Körper schämte, wollte auf Entspannung in der Sauna ungern verzichten. Er hatte die Idee, sich eine private Sauna in den Garten zu bauen. Weil das für ihn der richtige Weg war.

Und nun sind Sie dran: Wo stehen Ihre Stoppschilder?

Denken Sie fünf Minuten darüber nach, was bei Ihnen im Bereich der Sexualität Scham auslöst. Was sind Ihre ganz persönlichen Stoppschild-Momente, in denen Sie sich schämen? Überlegen Sie nun, welche Wege sich für Sie auftun: Möchten Sie abbiegen, weil es sich besser anfühlt? Oder möchten Sie sich von Glaubenssätzen lösen, die das Schamgefühl ausgelöst haben, und geradeaus weitergehen? Und wenn Sie mögen, sprechen Sie mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner darüber.

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