Schlichting!: Ein Antrieb aus Wunderkerzen

Wunderkerzen werden ihrem Namen auf vielfältige Weise gerecht. Die wie Sternschnuppen fortfliegenden Funken, das Prasseln des Brennvorgangs, das Prickeln der glühenden Teilchen auf der Haut und das glitzernde Licht in der Dunkelheit machen diese Feuerwerkskörper zu einem Evergreen der dunklen Jahreszeit, insbesondere zu Weihnachten und Silvester.
Die gleißend helle Farbe der Funken verrät: Man hat es mit Weißglut zu tun. Das bedeutet, dass Temperaturen von mehr als 1000 Grad Celsius im Spiel sind. Das wirft verschiedene Fragen auf. Wie werden solche Temperaturen erreicht? Und warum zeigt die Haut, die von den glühenden Teilchen getroffen wird, außer einem leichten Pieksen keine Verletzungserscheinungen?
Das Feuer der Wunderkerze lässt sich mit haushaltsüblichen Anzündern entfachen, etwa Feuerzeug oder Streichholz. Es brennt dann von selbst weiter, und zwar so heftig, dass es zahlreiche glühende Teilchen in alle Richtungen schleudert.
Das Zündmaterial ist in einer einige Millimeter dicken Schicht auf dünne Stahldrähte aufgebracht. Es besteht zu etwa 30 Prozent aus Eisenpulver sowie zu jeweils rund zehn Prozent aus Aluminiumpulver und einem Bindemittel. Die restliche Hälfte entfällt auf Bariumnitrat, das als Sauerstofflieferant dient.
Es brennen also Aluminium und Eisen. Das mag erstaunlich klingen angesichts der zahlreichen Alltagsgegenstände, die aus diesen Metallen bestehen. Wir kennen allerdings den Effekt, dass Eisen rostet, indem es sich mit Sauerstoff verbindet – das ist bereits eine sehr langsame Art der Verbrennung. Liegt das Metall in Form von Stahlwolle vor, kann diese Tendenz schon so intensiv werden, dass man ein lockeres Bündel dieser Metallfasern anzünden kann. Hier gibt das Material bei der Oxidation genügend Energie ab, um einen intensiven Verbrennungsvorgang mit heller Flamme zu unterhalten. In Pulverform kann Eisen sogar explodieren.
Das zeigt: Je feiner das Metall ist, desto heftiger fällt die Reaktion aus. Der Grund dafür liegt in der sogenannten Flächen-Volumen-Relation: Mit abnehmender Größe verringert sich das Volumen wesentlich schneller als die zugehörige Oberfläche. Daher ist der Kontakt mit dem umgebenden Sauerstoff der Luft sehr viel intensiver. Das beschleunigt die Verbrennung und vergrößert die Energieabgabe.
Für das Abbrennen einer Wunderkerze reicht die Kleinteiligkeit von Eisen und Aluminium jedoch noch nicht aus. Dafür braucht es das Bariumnitrat. Es zerfällt bei hohen Temperaturen unter Abgabe von reichlich Sauerstoff. Der treibt den Verbrennungsvorgang an – so stark, dass die entstehenden Gase einen großen Druck erzeugen. Dieser sprengt die glühenden Teilchen regelrecht weg und lässt sie zu jenen Minigeschossen werden, die wir dann als prasselndes Feuerwerk mit allen Sinnen erleben.
Denn die Lichtshow macht sich auch akustisch in Form eines Rauschens bemerkbar sowie als winzige Nadelstiche auf der Haut der Hand, die die Wunderkerze hält. Wirklich schmerzhaft ist das glücklicherweise nicht, obwohl man das unter der Einwirkung von 1000 Grad heißen Teilchen vielleicht erwarten würde. Aber auch hier ist entscheidend, wie winzig die Metallbröckchen sind. Die Funken haben zwar eine hohe Temperatur, wegen ihrer geringen Masse jedoch eine entsprechend kleine Wärmekapazität. Die auf die Haut übertragene Energie ist daher erträglich. Die Hautfeuchtigkeit bremst die Temperaturerhöhung wegen der großen spezifischen Wärmekapazität von Wasser zusätzlich. Es ist allerdings ratsam, sich nicht ganz in Sicherheit zu wiegen. Empfindliche Materialien wie Tischdecken und Kleidung können Schäden davontragen.
Die heftigen Vorgänge regen zu einer weiteren Frage an: Könnte man die Bewegungsenergie der abgeschossenen glühenden Teilchen nutzen, beispielsweise als Antrieb? Denn da jede Kraft mit einer gleich großen Gegenkraft verbunden ist, sollte es eine entsprechende Rückwirkung auf die Wunderkerze geben.
Schaut man sich die brennende Wunderkerze genauer an, so erkennt man, dass die Funken nicht gleichmäßig in alle Richtungen sprühen. Zwar werden aufgrund der Rotationssymmetrie im Lauf der Zeit durchschnittlich gleich viele glühende Teilchen zu den Seiten ausgesandt. Entlang der Achse des Drahts ist das jedoch nicht der Fall: In Richtung des bereits abgebrannten Bereichs fliegen mehr glühende Partikel.
»Sprühende Funken im Dunkel, ein flüchtiges Wunder«Daniel Kehlmann, deutsch-österreichischer Schriftsteller
Die Funken haben zur abgetragenen Beschichtung hin weitgehend freie Bahn, während die noch frische Seite eine Barriere darstellt. Physikalisch betrachtet bedeutet diese Asymmetrie: Im zeitlichen Mittel werden nicht alle auf den Draht wirkenden Kräfte durch entsprechende Kräfte in die entgegengesetzte Richtung kompensiert. Es resultiert also eine Gesamtkraft auf den Stab in Richtung des Abbrands.
Die Gesamtkraft ist gering, aber sie lässt sich zumindest rein spielerisch nutzen. Man kann mehrere Wunderkerzen zu einer Art Rad zusammenfügen, dessen Nabe reibungsarm lagert, zum Beispiel aufgehängt an einem Faden. Wenn man die brennbaren Bereiche der Wunderkerzen dabei um 90 Grad umbiegt, liegen sie näherungsweise tangential zum Kreis, den das so entstandene Rad beschreibt. Zündet man die Wunderkerzen an, so gerät die Konstruktion in eine langsame, aber stetige Bewegung.
Bei den normalen Wunderkerzen mit einer Brenndauer von 40 Sekunden muss man sich allerdings beeilen, alle möglichst gleichzeitig anzuzünden, um die langsam in Gang kommende Drehung bewundern zu können. Dauerhafteren Spaß hat man – ob mit solchen Experimenten oder beim einfachen Festhalten – mit längeren Wunderkerzen bis hin zu den Riesenwunderkerzen: Sie brennen dreieinhalb Minuten.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.