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Schlichting!: Katastrophales Rauschen im Wald

Kleine Tropfen von Nieselregen können sich auf den Blättern von Laubbäumen ansammeln und eine kritische Masse erreichen. Dann genügt ein kleiner Anstoß, und die Blätter werden in einem Schwall lawinenartig von ihrer Wasserlast befreit.
Ein Zweig mit grünen Blättern, die von Regentropfen benetzt sind. Im Hintergrund sind unscharfe Lichtreflexionen und fallende Regentropfen zu sehen.
Unter dem vermeintlichen Schutz eines Blätterdachs wird man manchmal von massenhaft Wasser überrascht.
Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

Obwohl es ein wenig nieselte, entschloss ich mich zu einem Spaziergang im nahegelegenen Wald. Ich ging davon aus, die Bäume würden mit ihrem üppigen Laub die Tröpfchen schon irgendwie abfangen. Als ich den Wald betrat, schien sich diese Einschätzung zunächst zu bestätigen – nur ab und zu traf mich ein Tropfen. Doch ganz plötzlich änderte sich dies.

Auf einmal setzte ein anschwellend rauschendes Geräusch im Laubwerk der Bäume ein. Ging eine Windböe hindurch? Ehe ich diesen Gedanken so richtig erwägen konnte, erhielt ich die Antwort in Form eines heftigen Tropfenschauers von oben. Er ging scheinbar ungehindert durch das Blätterdach der Laubbäume hindurch.

Während ich noch über eine Möglichkeit nachdachte, dem Regenschauer zu entgehen, beruhigte sich die Lage wieder. Begleitet von vereinzeltem Nachtröpfeln schien es nun trocken zu bleiben. Doch weit gefehlt! Als ich schon nicht mehr damit rechnete, rollte unversehens die nächste Lawine heran.

Blatt im Nieselregen | Die winzigen einzelnen Tropfen verschmelzen durch äußere Einflüsse bedingt zu größeren Einheiten.

Entscheidend für diesen durch Nieselregen ausgelösten Schwall ist die Wechselwirkung der Wassertröpfchen mit den Blättern. Deren Fläche, die »Blattspreite«, richtet sich naturgemäß möglichst so aus, dass sie viel Licht auffangen kann. Sie steht daher tendenziell waagerecht – senkrecht zum Lichteinfall durchs Blätterdach.

Die Blätter der Laubbäume sind meist weitgehend hydrophob: Das Wasser breitet sich nicht völlig auf der Oberfläche aus, sondern benetzt sie in mehr oder weniger großen Tropfen. Viele Blätter haben Vertiefungen, Rinnen oder v-förmige Strukturen entlang der Mittelrippe oder am Blattgrund. Darin kann sich Wasser ansammeln. Auf diese Weise verbleibt ein nicht unerheblicher Teil des Regens auf den Blättern. Immerhin hat man in Laubwäldern eine Wasserzurückhaltung (Interzeption) von bis zu 25 Prozent des Niederschlags ermittelt.

Wasserabweisendes Blatt | Die Oberfläche von Blättern ist oft wasserabweisend, sodass sich große, runde Tropfen mit wenig Kontaktfläche zum Blatt bilden, die leicht abrollen.

Während das Blatt Wasser sammelt, nehmen die Masse und damit die Gewichtskraft zu. Dadurch neigt es sich stärker als im trockenen Zustand. Elastische Kräfte des ausgelenkten Blattstiels kompensieren die Gewichtskraft. Wegen der Adhäsionskraft zwischen Blattoberfläche und Wasser fließt dieses zunächst auch in der veränderten Ausrichtung nicht ab.

Das passiert erst, wenn die Komponente der Gewichtskraft des angesammelten Wassers größer wird als die benetzungsbedingte Adhäsionskraft, mit der das Wasser am Blatt haftet. Dann läuft ein Teil des Wassers ab oder es sammelt sich in den Vertiefungen, die manche konkav geformten Blätter aufweisen. Es bleibt jedoch stets ein Teil des anhaftenden Wassers zurück.

Konkave Nischen | In den Blättern können oft gewisse Wassermengen hängenbleiben. Sie rinnen meist als Ganzes ab, sobald das Blatt eine kritische Neigung überschreitet.

Bei normalem Regen wird das Blatt bereits von Anfang an durch den quasi stationären Strom von relativ großen Wassertropfen weit ausgelenkt – so weit, dass es zu keiner nennenswerten Speicherung von Wasser kommt. Es ergießt sich unmittelbar auf die tieferen Blätteretagen. Dort findet es ähnliche Bedingungen vor und läuft weiter ab. Akustisch führt das Geschehen zu einem nahezu gleichbleibenden Rauschen.

Bei Nieselregen hingegen müssen sich die Blätter gewissermaßen erst allmählich füllen. Nun dauert es einige Zeit, bis sie den kritischen Neigungswinkel erreichen, der einen entsprechenden Überlauf ermöglicht, sodass das Wasser auf die darunterliegenden Blätter fließt. Nach einer solchen Entleerung wippt das Blatt in seine Ausgangslage zurück, und der Vorgang wiederholt sich. Das passiert statistisch verteilt mal hier und mal dort und fällt meist nicht weiter ins Gewicht.

Die beim Nieseln überlaufenden Blätter behalten einen Teil des anhaftenden Wassers und bleiben daher in einem elastisch gespannten Zustand. Erst eine erzwungene weitere Neigung würde zusätzliches Wasser freigeben. Die nachströmenden Nieseltropfen reichen dazu nicht aus. Würde das Blatt jedoch durch welche Kraft auch immer noch mehr geneigt, käme es zu einer entsprechend größeren Entleerung.

Das kann beispielsweise eine Wasserzufuhr von oben bewirken. Dazu würde ein heftiger Windstoß genügen, der gleich mehrere unterschiedlich gefüllte Blätter über die maximale Neigung hinaus auslenkt. Das löst so etwas wie eine Wasserlawine aus. Denn die nächstniedrigeren Blätter erhalten auf diese Weise verhältnismäßig viel Wasser, sodass sehr viele von ihnen ebenfalls zur gleichen Zeit überlaufen.

»Es beginnt mit einem Flüstern – endet im Getöse«Ursula Krechel, deutsche Schriftstellerin

Ein lawinenartiger Abgang des Wassers hat zur Folge, dass sich ein Gutteil der Blattreservoire nach unten ergießt. Anschließend sind diese daher etwa zur gleichen Zeit wieder gefüllt. Dann reicht eine kleine Störung, um auch ohne einen starken Windstoß für eine kollektive Entleerung zu sorgen. Diese Störung könnte im Extremfall darin bestehen, dass vielleicht nur ein einziges Blatt überläuft und damit seine Wasserladung an die Blätter darunter abgibt. Weil diese jedoch bereits gespannt wären, reichte die Zufuhr von oben, sie so weit auszulenken, dass auch sie ihr Wasser weitergäben. Es käme somit möglicherweise zu einer Tropfenlawine, die begleitet vom anschwellenden Rauschen bis zur untersten Blattetage durchschlüge.

Was immer der Auslöser für die beiden lawinenartigen Regengüsse gewesen sein mag, die ich während des Nieselregens im Wald über mich ergehen lassen musste, es war ein Beispiel für ein kollektives Phänomen: Unzählige winzige Wasserströme vereinigten sich wie auf Kommando zu einem einheitlichen großen Strom.

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