Schlichting!: Schneeverlust unter dem Gefrierpunkt
Wenn uns der Winter Schnee beschert, wird die Schicht auch bei anhaltenden negativen Temperaturen gelegentlich dünner und verschwindet an einigen Stellen sogar ganz. Etwa nach dem Schneeschieben, wenn die zurückgebliebenen Reste sich anschließend in nichts aufzulösen scheinen. Schuld daran sind mechanische und thermodynamische Vorgänge, die weitgehend im Verborgenen stattfinden. Insbesondere spielen Wechselwirkungen zwischen den drei Aggregatzuständen des Wassers – fest, flüssig und gasförmig – eine entscheidende Rolle.
Das Volumen des Schnees nimmt bereits ab, kurz nachdem er gefallen ist. Eine frische, trockene Flockendecke hat zahlreiche Hohlräume und daher eine geringe Dichte. Bald darauf sackt das Gefüge unter dem eigenen Gewicht mehr und mehr in sich zusammen. Die Höhe wird geringer, und die Dichte wächst. Dafür sind unter anderem Sinterungsprozesse verantwortlich, bei denen sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Kristallen neu organisieren (siehe »Knirschender Schnee«, »Spektrum« Januar 2018, S. 70). Dabei bleibt die Gesamtmasse aber noch überwiegend erhalten. Zu echten Schneeverlusten kommt es dann durch Wechselwirkungen zwischen dem Wasserdampf in der Atmosphäre und dem Schnee.
»Oh welch ein Schreck: Der Schnee ist weg! Wo ist er nur geblieben?«Anita Menger, *1959
Strandurlauber kennen das Gefühl, wenn sich die Luft nach einem Bad im Meer kälter anfühlt. Die Wahrnehmung lässt sich objektiv untermauern: Umwickelt man beispielsweise den Sensor eines Thermometers mit einem feuchten Wattebausch, liest man eine niedrigere Temperatur ab als im trockenen Zustand. Es gibt spezielle Doppelthermometer, so genannte Psychrometer, die basierend auf diesem Prinzip neben der normalen Trockentemperatur die Feuchttemperatur anzeigen (siehe Illustration).
Die Verdunstung des Wassers entzieht der Umgebung Energie in Form von Wärme. Die Temperatur sinkt umso mehr, je geringer die relative Feuchte ist – das Verhältnis aus der tatsächlichen Konzentration von Wasserdampf und der bei der Temperatur maximal möglichen. Bei einer relativen Feuchte von 100 Prozent kondensiert genauso viel Wasser wie verdunstet. Die Temperatur, bei der das passiert, nennt man Taupunkt. Er liegt stets unterhalb der Feuchttemperatur, außer bei 100 Prozent relativer Feuchte. Nur dann sind normale Temperatur, Feuchttemperatur und Taupunkt gleich.
Bei niedrigen Plusgraden kann es vorkommen, dass die Feuchttemperatur negativ wird. Die entsprechende Seite des Psychrometers würde vereisen. Obendrein liegt dann die relative Feuchte unter 100 Prozent (sonst gäbe es keinen Temperaturunterschied), der Taupunkt ist also noch niedriger. In einem solchen Fall schmilzt der Schnee nicht, sondern er geht direkt von der festen in die gasförmige Phase über. Diese Sublimation ist umso stärker, je niedriger die relative Feuchte ist.
Schnee ist hartnäckig – nur mit Aufwand kann er entrinnen
Die Sublimation erfordert nicht nur die nötige Energie, um Wasser in den gasförmigen Zustand zu überführen (Verdampfungswärme), sondern zusätzlich die, um das Eis zu schmelzen (Schmelzwärme). Diese große Gesamtenergie wird zunächst der unmittelbaren Umgebung entzogen. Daraufhin kühlt sich insbesondere die Schneedecke weiter ab. Dadurch rückt aber zumindest lokal die Feuchttemperatur zusehends an den Taupunkt – der Sublimationsprozess wird langsamer und begrenzt sich selbst.
Falls die Feuchttemperatur positiv ist und der Taupunkt negativ, schmilzt der Schnee mit einer Temperatur von null Grad Celsius an der Grenzschicht zur Luft. Er wird von einem dünnen Wasserfilm bedeckt. Entsprechend ist die relative Feuchte in diesem Bereich sehr groß, und der Taupunkt ist schnell erreicht. Der Vorgang entzieht der Umgebung, das heißt hier vor allem dem gerade entstandenen Wasser, viel Energie. Teilweise gefriert es wieder, und im neu hervorgegangenen Gleichgewicht kommt der Schneeverlust bald zum Erliegen.
Diese Blockade wird erst überwunden, wenn der Taupunkt einen positiven Wert annimmt. Das Schmelzen des Schnees sorgt nun zwar ebenfalls für eine Abkühlung, aber er wird nicht erneut fest. Jetzt taut es: Die flüssige Phase nimmt kontinuierlich zu, während die fortschreitende Benetzung des Schnees den Vorgang noch beschleunigt. Denn indem das kalte Oberflächenwasser im Schnee versickert, geraten die frei gelegten Schneeflächen jeweils direkt mit der noch wärmeren Luft in Verbindung. Das ist wesentlich effektiver als das bloße Schmelzen bei negativem Taupunkt.
Für einen im Wortsinn weitaus durchschlagenderen Taueffekt sorgt die Zufuhr von Wasser. Das passiert bei Regen: Die fallenden Tropfen dringen (sofern es sich nicht gerade um unterkühlten Eisregen handelt) wegen der großen Wärmekapazität des Wassers oft tief in den Schnee ein und durchlöchern ihn. Das vergrößert die Oberfläche des Schnees stark und gibt der Luft Gelegenheit, im Inneren Energie auszutauschen und den Tauvorgang zu beschleunigen. Die wachsenden Löcher lassen schließlich außerdem die Sonne bis zum dunkleren Boden vordringen. Dieser absorbiert die Strahlung und heizt damit zusätzlich von unten. So kann letztendlich, selbst wenn die Umgebungstemperatur unter null Grad liegt, beispielsweise ein Stück frei gelegter Asphalt im Sonnenlicht sich über den Gefrierpunkt hinaus erwärmen und Schneeresten in der Umgebung zusetzen.
Bei dickeren Schneedecken, die länger an Ort und Stelle bleiben, beschleunigen Verunreinigungen durch Staub und Schmutz das Tauen. Die dunklen Stellen sind gute Absorber von Strahlung und folglich zwar winzige, aber in ihrer großen Zahl wirkungsvolle Lieferanten von Schmelzenergie (siehe »Zwischen weißer Pracht und Schmutzskulptur«, »Spektrum« Februar 2016, S. 48).
In der Nähe des tauenden Schnees steigt die Wasserdampfproduktion an, wodurch sie sich selbst bremst. Wenn allerdings Wind Luft heranführt, kann das den Schwund sehr effektiv antreiben. Darum bleibt Schnee nicht nur an den sonnen-, sondern auch an den windgeschützten Stellen merklich länger liegen. Wer abschätzen will, wie lange das winterliche Weiß erhalten bleibt, sollte also mehr als nur das Thermometer im Blick behalten.
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