Sex matters: Wenn der eine öfter will als der andere

»Ich bin total frustriert. Enrico und ich sind seit drei Jahren zusammen, vor einem halben Jahr sind wir in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Eigentlich läuft alles super zwischen uns, aber beim Sex stimmt etwas nicht. Ich habe viel öfter Lust als er. Manchmal ziehe ich schöne Unterwäsche an und kuschel mich an ihn, aber er blockt ab. Es verunsichert mich, wenn er mich so zurückweist. Die meisten Männer in unserem Freundeskreis haben immer Lust auf Sex. Bin ich das Problem oder er?« (Chloé*, 31)
Chloé hat mehr Lust auf Sex als Enrico. Was ist da los? Die Sachlage ist ganz einfach: Zwei Menschen haben unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch. Keiner ist schuld. Niemand ist »das Problem«. Warum auch? Beim Essen wäre es ja auch kein Thema: Ich habe richtig Hunger auf einen Teller Nudeln, du willst Salat – alles prima. Wir haben im Leben dauernd verschiedene Bedürfnisse, und das ist in Ordnung. Nur beim Sex empfinden wir das oft als Problem.
Unterschiedliche Lustlevel in Paarbeziehungen sind häufig. Eine deutsche Metaanalyse über mehr als 200 internationale Studien zum Sexualtrieb kam 2022 zu dem Ergebnis, dass Männer im Schnitt einen stärkeren Sexualtrieb haben als Frauen. Der durchschnittliche Mann fantasiert häufiger über Sex, erlebt häufiger sexuelles Verlangen und masturbiert häufiger als die durchschnittliche Frau. Es kann aber auch umgekehrt sein: Laut der Studie hat gut ein Viertel der Frauen mehr Lust auf Sex als der durchschnittliche Mann. Die Situation, in der sich Chloé und Enrico befanden, ist also statistisch gesehen gar nicht selten.
Im Schnitt haben Männer einen stärkeren Sexualtrieb als Frauen. Aber gut ein Viertel der Frauen hat mehr Lust auf Sex als der durchschnittliche Mann
Und dennoch: Als die beiden zum ersten Mal zu mir kamen, hatten sie ein gemeinsames Thema, das sie beide bekümmerte. Enrico hatte Selbstzweifel, weil ein Kumpel zu ihm gesagt hatte: »Sei dankbar, es ist doch super, wenn sie Sex will!« Enrico hatte das Gefühl, Sex wie eine Leistung erbringen zu müssen. Als wäre die Beziehung ein Vertrag, in dem er seinen Teil der Vereinbarung schuldig blieb. Chloé wiederum fühlte sich von Enrico zurückgewiesen. Er hatte schon ein-, zweimal mitgemacht, obwohl er gar keine Lust hatte – und dementsprechend auch keine Erektion bekommen. Das Ergebnis war ein Teufelskreis aus Frustration und Verunsicherung.
Lust zu äußern, ist eine Form der Selbstoffenbarung. Wenn ich sage: »Hey, ich habe richtig Lust auf Sex mit dir«, dann ziehe ich mich emotional aus, werde verletzbar. Denn reagiert mein Partner ablehnend, kann es gut sein, dass ich das Gefühl habe, nicht attraktiv genug zu sein. Das kann mich traurig oder wütend machen.
Grundregeln vereinbaren
Ich habe den beiden vorgeschlagen, ein paar Grundregeln zu vereinbaren. Darf Chloé sagen, dass sie Lust hat? Enricos Antwort: »Ja, klar!« Darf Enrico sagen, wenn er keine Lust hat? Ja, entschied Chloé. Wir haben gemeinsam aufgeschrieben: Wer Lust hat, darf das äußern. Wer keine Lust hat, darf Nein sagen. Beides ist legitim, denn Sex ist keine Verpflichtung.
Aber was war der Grund für Enricos sexuelle Unlust? Am Anfang der Beziehung konnte er es genießen, dass Chloé mit ihm Sex haben wollte. Was war seitdem passiert? Die Frage klingt einfach. Doch eine Antwort zu finden, dauert eine Weile. In der Beratung schaue ich mit den Menschen auf viele mögliche Ursachen: Alltag, Beruf, Körperliches.
Enrico erzählte von seinem Job. Eine Beförderung, mehr Verantwortung, längere Arbeitstage. Er treibe immer weniger Sport. Er hatte zehn Kilo zugenommen. Früher fand er sich ansehnlich, jetzt unsexy – dieser Bauch! Weil Chloé schlank und sportlich war, war sie viel attraktiver als er, fand Enrico.
Über Alternativen verhandeln
Blieb die Frage, wie es weitergehen sollte. Eine Möglichkeit: Enrico ändert seinen Lebensstil und führt wieder ein gesünderes Leben: mit weniger Stress und mehr Bewegung. Und schaut dann, ob sich mit einem besseren körperlichen und psychischen Befinden seine Bedürfnisse verändern. Eine andere Option wäre, die Beziehung zu öffnen. Der Mensch mit der höheren Libido darf auch mal Sexualität mit anderen leben – sofern beide damit einverstanden sind. Und noch eine Alternative: die Vorstellung von Sexualität so zu verändern, dass es für beide passt. Sex muss nicht immer Penetration bedeuten. Körperliche Nähe kann viele Formen haben.
Sex zu einer Pflichtveranstaltung zu machen, ist keine Lösung. Ja, es darf auch mal sein, dass wir nur dem anderen zuliebe Sex haben. Das ist wie mit Fastfood: Obwohl ich keine Pommes mag, esse ich sie hin und wieder, um den Kindern eine Freude zu machen, weil es für sie nichts Besseres gibt. Beim Sex kann das schon mal ähnlich sein: Wir lassen uns darauf ein, obwohl wir vielleicht müde oder lustlos sind. Das sollte jedoch nicht zur Gewohnheit werden. Da brauchen wir andere Ideen.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in seiner Kolumne »Sex matters«. Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Meine Frage an Enrico: Stellen Sie sich vor, Sie kuscheln mit Chloé auf der Couch. Ist es denkbar, dass Chloé sich anfasst und Sie ihr dabei zusehen? Chloé, können Sie sich vorstellen, Ihre sexuellen Bedürfnisse vor Enricos Augen auszuleben? Beide hatten Zweifel. Enrico überlegte, ob das überhaupt »richtiger Sex« sei. Und Chloé fragte sich: Was, wenn ihn das kaltlassen würde?
Aber die beiden ließen sich auf das Experiment ein. Vier Wochen später erzählten sie mir, dass sie es ausprobiert hatten. Enrico hatte Chloé zugesehen und es hatte ihm gefallen. Er war entspannt, weil er wusste, dass sie weder eine Erektion noch eine Penetration erwartete. »Trotzdem war es Sex«, sagte er. Chloé fand es erregend, dass Enrico ihr zusah. Er sagte ihr auch, wie schön er sie fand. »Endlich«, sagte sie, »fühlte ich mich mal wieder begehrenswert.«
* Name geändert
Wie leben Sie und Ihre Partnerin oder Ihr Partner unterschiedliche Bedürfnisse aus? Sammeln Sie Beispiele aus dem Alltag. Essen, Musik, Sport, Wärme und Kälte: Welche Bedürfnisse haben Sie, die ganz anders sind als die Ihres Partners? Und wie sorgen Sie dafür, dass sie erfüllt werden?
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