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Grams' Sprechstunde: Deine Freiheit, meine Verantwortung?

Niemand ist gezwungen, sich gegen Corona impfen zu lassen. Man wird für die Entscheidung dagegen auch nicht bestraft. Dass Geimpfte andere Freiheiten haben, als Ungeimpfte ist nur richtig. Denn es geht um den Schutz der Gemeinschaft.
Keine Solidarität

Kritiker der Covid-19-Impfung haben zuletzt eine lohnende Diskussion angefangen. Ihr Argument, kurz skizziert: Es ist unfair, dass man zur Coronaimpfung quasi gezwungen ist, bevor man zum Beispiel ein Café betreten darf. Denn schließlich lebten wir doch in einem System, in dem wir als Solidargemeinschaft Gesundheitsrisiken gemeinsam tragen – und damit explizit auch die höheren Risiken von Menschen, die sich chronisch ungesund ernähren, rauchen oder unvernünftige Extremsportarten betreiben. In dieser Gemeinschaft, so heißt es weiter, sind ungesunde Lebensmittel, Zigaretten und Paragliding nicht verboten. Warum hält man also Ungeimpfte vom Cafébesuch ab, wo doch sonst niemand Menschen mit Übergewicht stoppt, bei McDonald’s einzuchecken? Wo Rauchenden keine Sanktionen drohen, wenn sie an Lungenkrebs erkranken?

Dazu zunächst ein Blick in das zentrale Gesetz für die gesetzliche Krankenversicherung, den Paragraphen 1 des Sozialgesetzbuchs V. Hier steht: »Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden.« Das ist eindeutig: Die Krankenkassen sollen auf Eigenverantwortung hinwirken, hinter dem Solidarprinzip versteckt sich aber kein Sanktionsregime.

Was kann die moderne Medizin leisten? Nutzt die Homöopathie? Was macht einen guten Arzt aus, und welche Rolle spielt der Patient? Die Ärztin und Autorin des Buchs »Was wirklich wirkt« Natalie Grams diskutiert in ihrer Kolumne »Grams' Sprechstunde« Entwicklungen, Probleme und eklatante Missstände ihrer Zunft. Alle Teile lesen Sie hier.

Demzufolge stehen die gesetzlichen Krankenkassen für gesundheitliche Probleme in einem genau festgelegten Rahmen ein. Menschen, die erkranken, steht die bestmögliche Behandlung nach wissenschaftlichen Kriterien zu. Egal, aus welchen Gründen, egal, wie schwer jemand erkrankt und egal, wie viel man vorher über das Einkommen in die gesetzliche Krankenkasse eingezahlt hat. Das gilt sogar, wenn man sich noch nach der Diagnose unvernünftig verhält. Nur in ganz wenigen Fällen – zum Beispiel nach Tätowierungen oder Piercings – können Versicherte an anfallenden Kosten beteiligt werden.

Zugleich sind alle angehalten, die eigene Gesundheit nicht zu gefährden und eine Krankheit zu verschlimmern. Dies wird schon seit Langem unterstützt: Kampagnen klären über die gesundheitlichen Risiken von Rauchen und Alkoholkonsum auf, zu Übergewicht oder Disease Management Programmen (DMP) für Diabetes; höhere Alkohol- und Tabaksteuern können die Nachfrage bremsen. Inwiefern mehr Warnungen nötig sind, ist diskutabel. Letztlich aber bleibt es staatlicherseits jedem selbst überlassen, wie vernünftig er sein oder sie ihr Leben führt.

Das hat übrigens Folgen, wie die Statistik der Todesursachen in Deutschland zeigt. Ungefähr 121 000 Menschen sterben zum Beispiel jährlich an den Folgen des Rauchens. Anderes Beispiel: Innerhalb eines Jahres erkranken 12 von 1000 Personen neu an Diabetes. Pro Jahr kommen so mehr als 600 000 Neuerkrankungen hinzu. Das entspricht etwa 1600 Neuerkrankungen pro Tag – eine ziemlich krasse Inzidenz. Trotzdem hat der Gesetzgeber kein Sanktionssystem eingeführt.

Dafür gibt es viele gute Gründe, die sich hier nicht alle aufzählen lassen. Überlegen Sie doch aber mal, was es rein praktisch bedeuten würde, vor jeder Kassenerstattung erst einmal prüfen zu lassen, ob eine Krankheit als »selbst verschuldet« und »nicht selbst verschuldet« zu bewerten ist. Wer prüft dann überhaupt? Ist ein Suchtproblem etwas, an dem ein Betroffener »schuld« ist? Würde man ein entsprechendes Bestrafungssystem einführen, wie immer mal wieder angedacht für Raucherinnen und Raucher? Könnten dann alle sich gesund Fühlenden ihre Beitragszahlungen einstellen, wann immer sie nichts dafür bekommen? Das Prinzip Solidarsystem, so viel ist sicher, wäre erledigt.

Im Solidarsystem bleibt notgedrungen ein Recht auf Unvernunft. Aber eines ist dabei ganz entscheidend: Dies betrifft stets nur das Recht auf eigene Unvernunft und den eigenen Schaden. Das Rauchen in Kneipen ist zum Beispiel verboten, weil auch Nichtrauchende dadurch gefährdet werden. Genauso gefährdet man mit der Infektionskrankheit Covid-19 andere: durch ein hochinfektiöses Virus, das vielfältige Krankheitssymptome verursacht und gerade bei älteren Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen zu schweren Verläufen und mitunter zum Tod führen kann. Hier ist selbst bei einer liberalen Einstellung eine Grenze überschritten; es kann nicht »jedermanns Recht« sein, unter Verzicht auf vernünftige Maßnahmen andere lebensbedrohlicher Gefahr auszusetzen.

Zu den vernünftigen Maßnahmen gegen Covid-19 gehört vor allem die Impfung. Wer geimpft ist, erkrankt nicht nur selbst deutlich seltener und weniger schwer, die Person reduziert zugleich drastisch das Risiko, andere mit dem Virus anzustecken. Die empfohlenen Hygienemaßnahmen reduzieren dieses Risiko noch weiter. Es ist nachvollziehbar, dass an Orten, an denen eine Weiterverbreitung des Virus besonders leicht möglich ist (im Club, Restaurant, Theater …) nur geimpften Personen mit einer reduzierten Übertragungswahrscheinlichkeit der Zutritt gewährt wird. Derlei Regeln während der Pandemie sind keine Bestrafung, sondern ein Schutz. Entsprechend sinnvoll ist es, Geimpfte und Ungeimpfte unterschiedlich zu behandeln, weil die Gruppen ihr Umfeld unterschiedlich stark bedrohen.

Dies ist kein »Sanktionsregime«, was die Analogie von Impfgegnern mit Rauchenden und Extremsportfans fälschlich zu suggerieren versucht. Sanktionen wären etwas anderes: Impfgegnern wäre nicht das Café verboten, man würde ihnen als Strafe eine Behandlung verwehren, wenn sie an Covid-19 erkranken. Tatsächlich gibt es sogar konsequent Verblendete, die öffentlich erklären, auf jede Behandlung verzichten zu wollen. Sie sollten uns kein Maßstab sein.

Das Schöne an unserem Solidarprinzip ist, dass auch Menschen, die eine Schutzimpfung aus den verschiedensten Gründen ablehnen, die beste medizinische Behandlung erfahren, sollten sie an Covid-19 erkranken. Und das wird ebenfalls von den gesetzlichen Krankenkassen getragen. Solidarischer wäre es natürlich, sich und andere zu schützen und nicht das volle Risiko – für sich selbst und die Solidargemeinschaft – einzugehen.

Oder, um es abschließend mit Stephen King zu sagen:

Heißt übersetzt: »Lasst es uns simpel halten, ihr Impfgegner: Ihr habt das Recht, euch selbst umzubringen, sei es mit Alkohol, Zigaretten, Kautabak oder durch exzessiven Lebensstil. Ihr habt nicht das Recht, andere zu töten, indem ihr ein Virus verbreitet. Das ist nicht Freiheit, das ist Egoismus.«

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