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Warkus' Welt: Sollten wir Demonstrationen verbieten, auf denen gelogen wird?

Die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen werden von vielen kritisch betrachtet. Unser Kolumnist Matthias Warkus erklärt, warum es dennoch wichtig ist, jede Meinung zuzulassen.
Demo gegen Corona-Einschränkungen in Stuttgart am 16. Mai 2020

Warum ist es eigentlich nicht verboten, sich auf die Straße zu stellen und blanken Unsinn zu erzählen? Dass Menschen das tun, ist kein neues Problem, aber aus aktuellem Anlass denken sicher viele in Deutschland (und nicht nur hier) gerade wieder darüber nach. Denn auch wenn es keine riesigen Menschenmassen sind: Es gibt doch sichtlich hörbare Minderheiten, die derzeit Lärm machen, um abenteuerlichen Quatsch über die Covid-19-Pandemie und die Maßnahmen dagegen zu verbreiten.

Nun kann Quatsch, speziell dieser, Leben gefährden. Man braucht sich nur vorzustellen, dass in irgendeiner Hochburg von »Hygienedemonstrationen« zufällig ein Großteil der Belegschaft oder gar die Leitung eines Pflegeheims oder einer anderen neuralgischen Einrichtung den dort propagierten Theorien anhängt und die Schutzmaßnahmen schleifen lässt. Wäre es nicht sinnvoll, dafür zu sorgen, dass solche Theorien gar nicht erst propagiert werden? Sollte der Staat Demonstrationen, auf denen gelogen wird, dass sich die Balken biegen, nicht verbieten können?

In unserer Gesellschaft ist das Recht auf freie Meinungsäußerung nur minimal eingeschränkt. Zu der Frage, warum das so ist, kann man sich zum Beispiel die vier Gründe für die Freiheit des Denkens und der Rede anschauen, die John Stuart Mill 1859 in seinem Buch »Über die Freiheit« zusammengetragen hat. Mill war einer der wichtigsten Philosophen des 19. Jahrhunderts und Hauptvertreter des klassischen Liberalismus.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Vier Gründe für Meinungsfreiheit

Mills erster Grund: Man sollte Meinungen nicht unterdrücken, weil man sie für falsch hält, denn man kann sich (zumindest in gesellschaftlichen Fragen) nie absolut sicher sein, ob die herrschenden Überzeugungen dazu, was richtig ist und was falsch ist, korrekt sind. Wird eine Meinungsäußerung von vornherein unterdrückt, kann auch nie offen geklärt werden, ob sie nun richtig ist.

Grund Nummer zwei: Selbst an größtenteils falschen Meinungen ist bisweilen ein Körnchen Wahrheit. Genau wie es umgekehrt selten so ist, dass jemand, der etwas Richtiges sagt, wirklich in jedem einzelnen Detail hundertprozentig Recht hat. Möchte man also keine wertvollen Erkenntnisse verlieren, muss man die Äußerung aller Meinungen zulassen.

Zudem werden auch richtige Meinungen von einzelnen Menschen nur dann wirklich zur Kenntnis genommen und verinnerlicht, wenn sie auch die möglichen Widersprüche dagegen kennen gelernt und sich damit beschäftigt haben, warum sie falsch sind. Das ist Mills Grund Nummer drei. Etwas, was man nur von irgendjemandem als wahr verkündet bekommen hat, dem man aber nicht widersprechen darf, glaubt man (Mill zufolge) nur wie einen Aberglauben oder eine Bauernregel. Nicht aber wie eine wirkliche lebendige innere Überzeugung.

Selbst an größtenteils falschen Meinungen ist oft ein Körnchen Wahrheit

Daraus ergibt sich dann Grund Nummer vier: Nur Überzeugungen, deren Pro und Kontra man selbst erkundet hat, indem man sich damit beschäftigt hat, was Menschen mit Ahnung von der Sache zum Thema sagen, taugen auch zur Motivation für das eigene Handeln. Auswendig Gelerntes und Aufdiktiertes akzeptiert man halt und lebt daran vorbei; aber eine Überzeugung, von der man im eigenen kritischen Denken erkannt hat, dass sie gegen Einwände Bestand hat, eine, die man gegen Widersprüche anderer verteidigen muss, kann man nicht so leicht wegschieben, und man akzeptiert eher, dass man auch in Einklang mit ihr leben muss.

Auch auf den »Hygiene-Demos« werden hier und da berechtigte Anliegen geäußert

Jetzt können wir uns natürlich fragen, ob diese Gründe auch heute noch zugkräftig sind. Ist es möglich, dass verschwörungsgläubige Demonstranten, die sich sicher sind, dass Bill Gates allen Menschen Chips implantieren möchte, vielleicht doch irgendwie Recht haben (Grund eins)? Wohl kaum. Grund zwei zieht schon eher. Selbst wenn es sicher nur ein kleiner Anteil ist, bei den Demonstrationen werden bestimmt hier und da auch legitime Anliegen geäußert. Das Video von einem älteren Herrn aus Gera, der fast die Fassung verliert, weil er seine Frau seit Wochen nicht mehr im Altersheim besuchen kann, hat sattsam die Runde gemacht.

Wirklich interessant wird es bei den Gründen drei und vier. Wird zum Beispiel die Meinung, dass es sinnvoll ist, Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen und weiterhin Abstand zu halten, dadurch überzeugender, dass über Gegenargumente (und seien sie noch so absurd) öffentlich diskutiert wird? Und steigert die öffentliche Diskussion die Bereitschaft, sich tatsächlich aktiv an der Einhaltung der Regeln zu beteiligen?

Ich lebe in Jena, der Stadt, die als erste in Deutschland eine »Maskenpflicht« eingeführt hat. Ich bekomme einerseits mit, dass in lokalen Social-Media-Kanälen erbittert und teils geradezu verzweifelt mit Verschwörungsideologen und Verharmlosern gestritten wird. Andererseits scheinen sich wirklich die meisten hier an die Regeln zu halten – schon ein paar Kilometer entfernt habe ich neulich bei einer Fahrradtour ins Umland anderes erlebt. Wird dort weniger offen diskutiert? Gibt es andere Gründe?

Entscheidend scheint mir vor allem eines zu sein: Mill sagt, man solle nicht einfach irgendwelche Gründe für und wider eine Meinung zur Kenntnis nehmen, sondern diese Gründe von Menschen hören, die sich auskennen. Und dazu, sich auszukennen, gehört (das meine ich zumindest) natürlich, dass man selbst bereit ist, das Für und Wider der eigenen Meinung zu hören und zu bedenken. Ich glaube, auch John Stuart Mill würde meine Einschätzung teilen: Es ist gut und richtig, dass alle alles zum Thema öffentlich verkünden dürfen. Aber wer klug ist, hört vor allem auf diejenigen, bei denen er vermuten darf, dass sie selbst Widerspruch zur Kenntnis nehmen – und nicht auf die, die irres Zeug schreien, weil sie jede Kritik am eigenen Standpunkt wegschieben.

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