Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die verborgene Mathematik im Verstand von Sherlock Holmes

Beim Blick in mein Bücherregal überkommt mich ein schlechtes Gewissen: Seit Jahren stehen da unangetastet die gesammelten Sherlock-Holmes-Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle. Leider bin ich nie über die fantastische Verfilmung mit Benedict Cumberbatch hinausgekommen (falls Sie diese noch nicht kennen – absolute Empfehlung). Tatsächlich haben es die Geschichten rund um den genialen britischen Ermittler Holmes und den nicht minder intelligenten Bösewicht, Professor James Moriarty, vor einigen Jahrzehnten auch den beiden Mathematikern John von Neumann und Oscar Morgenstern angetan.
Während von Neumann und Morgenstern die mathematische Disziplin der Spieltheorie begründeten, knöpften sie sich eine spezielle Situation aus der Kurzgeschichte »Das letzte Problem« vor: In dieser flieht Holmes aus London, um einem Mordanschlag durch Moriarty zu entgehen. Die Mathematiker kamen im Jahr 1944 bei ihrer Untersuchung zu dem Schluss: »Sherlock Holmes ist zu 48 Prozent tot, als sein Zug aus der Victoria Station abfährt.« Aber wie können sie das so genau beziffern? Und wie sollte Holmes handeln, um seinem Widersacher zu entwischen? All das lässt sich mit Hilfe der Spieltheorie beantworten.
Als von Neumann und Morgenstern anfingen, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, gab es die Spieltheorie noch nicht. Wie man Entscheidungen fällt und welche Risiken sie mit sich bringen, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht die Angelegenheit von Mathematikern. Nach ein paar fruchtbaren Diskussionen beschlossen die beiden Kollegen, ihre Überlegungen zu Spielstrategien in einer Veröffentlichung festzuhalten. Doch als sie ihre Erkenntnisse zu Papier brachten, wurde ihnen schnell klar: Eine einzelne Arbeit wird dafür nicht ausreichen. Wahrscheinlich würden sie ihre Ergebnisse auf zwei Aufsätze aufteilen müssen. Kurze Zeit später erkannten sie, dass auch das nicht genügt. Nach und nach entstand aus ihren Überlegungen das knapp 700-seitige Buch »Theory of Games and Economic Behavior«, das bis heute als Standardwerk der Spieltheorie gilt. (Mehr zu John von Neumann und seinen mathematischen Entdeckungen erfahren Sie im Podcast »Geschichten aus der Mathematik«.)
In diesem widmen sich die zwei Mathematiker unterschiedlichen entscheidungstheoretischen Problemen. Ein berühmtes Beispiel für so eine Aufgabe ist das »Kuchenproblem«, bei dem ein Kuchen auf zwei Personen aufgeteilt werden soll. Beide Akteure möchten dabei möglichst viel abbekommen. Eine Lösung besteht darin, dass eine Person den Kuchen schneidet und die andere aussuchen darf, wer welches Stück bekommt. Die optimale Handlungsweise für die Person, die den Kuchen schneidet, besteht also darin, ihn möglichst gerecht in zwei gleich große Stücke aufzuteilen. Diese Lösung haben sich Morgenstern und von Neumann zwar nicht ausgedacht (tatsächlich ist sie seit der Antike bekannt), aber es ist ein anschauliches Beispiel, um sich der Spieltheorie zu nähern.
Du denkst, dass ich denke, dass du denkst, …
Aber leider lassen sich nicht alle Probleme so einfach lösen wie das Kuchenproblem. Das betrifft unter anderem die Entscheidung, die Sherlock Holmes bei seiner Flucht aus London fällen muss. In »Das letzte Problem« schildert der Autor Doyle, dass James Moriarty den genialen Ermittler bis an den Bahnsteig der Victoria Station verfolgt und noch sieht, wie Holmes in einen Zug nach Dover springt. Moriarty kann nicht mehr in den Zug einsteigen. Er heuert daher einen einzelnen motorisierten Eisenbahnwagen an, um Holmes zu verfolgen. Holmes' Zug fährt allerdings nicht direkt nach Dover durch, sondern hält unterwegs in Canterbury. Nun muss sich Moriarty entscheiden: Begibt er sich nach Canterbury, in der Hoffnung, dass Holmes dort aussteigt, oder reist er bis nach Dover?
Auch Holmes muss seine Entscheidung genau abwägen. Er würde gerne Dover erreichen, um von dort aus zum europäischen Festland zu fliehen – doch das weiß Moriarty natürlich. Deshalb wird Moriarty vermutlich in Dover auf ihn warten, was dafür spricht, bereits in Canterbury auszusteigen. Andererseits könnte Moriarty ebenfalls auf diesen Gedanken kommen und entsprechend darauf reagieren. Sollte Sherlock also vielleicht doch nach Dover fahren? Durch diese Überlegungen landet Holmes in einer Endlosschleife ohne Ausweg: Wenn Moriarty denkt, dass Holmes denkt, dass Moriarty denkt, dass … Auf diese Art kommt der Ermittler nicht weiter.
Daher sollte Holmes davon ausgehen, dass Moriarty seine Entscheidung voraussehen wird – und entsprechend Schadensbegrenzung betreiben. Das heißt: Holmes optimiert seinen Entschluss darauf, dass seine pessimistischsten Erwartungen möglichst gut ausfallen. Diese Strategie hat von Neumann bereits 1928 veröffentlicht und gezeigt, dass sich so der Gewinn eines Spielers maximieren lässt, wenn man davon ausgeht, dass der Kontrahent einen größtmöglichen Schaden erreichen will.
Der Zufall entscheidet
Wenn es bei einem Problem – anders als beim Kuchenproblem – keine eindeutige Gewinnstrategie gibt, hilft nur noch der Zufall. Das ist unter anderem bei Spielen wie »Schere, Stein, Papier« der Fall: Sobald einer der Spieler einem festen Muster folgt, kann das Gegenüber das ausnutzen, um zu siegen. Deshalb besteht die beste Strategie darin, jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von ⅓ Schere, Stein oder Papier auszuwählen. Im Mittel sollten beide Parteien dann gleich häufig gewinnen und verlieren und damit ihren Schaden minimieren.
Bei einer solchen Strategie muss man aber nicht zwingend jede der Optionen mit einer gleich hohen Wahrscheinlichkeit auswählen. Im Fall von Holmes und Moriarty würde das beispielsweise nicht zum bestmöglichen Ergebnis führen. Um das nachzuvollziehen, hilft es, die verschiedenen möglichen Szenarien einzeln durchzugehen und mit Hilfe von Zahlen zu gewichten.
Genau das haben von Neumann und Morgenstern gemacht. Die beiden Mathematiker haben sich dafür entschieden, Werte zwischen –100 und 100 zu verwenden, wobei ein hoher Wert eine besonders lohnenswerte Situation für eine Person symbolisiert. Welche genauen Zahlenwerte (so genannte Auszahlungen) man für welche Situation wählt, ist subjektiv – aber anhand dieser subjektiven Gewichtung lässt sich dann aus objektiver Sicht eine optimale Entscheidung treffen.
Insgesamt können vier verschiedene Situationen eintreten:
- Moriarty und Holmes reisen nach Dover. Für Moriarty ist das optimal, deshalb entspricht das einer Auszahlung von 100; für Holmes ist es hingegen katastrophal, daher erscheint für ihn der Wert –100.
- Moriarty steigt in Canterbury aus, aber Holmes fährt nach Dover. Das ist für Moriarty gleich doppelt schlecht, da Holmes so auf den europäischen Kontinent fliehen könnte, was es noch schwerer macht, ihn zu schnappen. Daher wird diese Situation für Moriarty mit –50 gewichtet. Für Holmes ist es hingegen ein positiver Ausgang, daher werten das von Neumann und Morgenstern mit +50.
- Moriarty reist nach Dover, Holmes ist bereits in Canterbury ausgestiegen. Für Moriarty ist das schlecht, aber immerhin besser als der zuvor geschilderte Fall. Daher lässt sich die Situation mit 0 gewichten; Gleiches gilt für Holmes, der immer noch in Großbritannien festsitzt.
- Moriarty reist nach Canterbury, wo Holmes ebenfalls aussteigt. Das wäre für Moriarty optimal und entspricht daher 100, während es für Holmes den Tod bedeuten könnte und damit mit der schlechtmöglichsten Auszahlung –100 gewertet wird.
Ziel einer jeden Person ist es also, seine Auszahlung zu maximieren. Da es aber keine eindeutige optimale Entscheidung gibt, müssen sich Holmes und Moriarty auf den Zufall verlassen. Sie könnten beispielsweise jeweils eine Münze werfen und so entscheiden, ob sie in Canterbury oder Dover aussteigen. Falls Moriarty bereits in Canterbury Halt macht, beträgt der Erwartungswert von Holmes' Auszahlung: ½·50 – ½·100 = –25. Sollte Holmes hingegen in Canterbury den Zug verlassen, beträgt der Erwartungswert für Holmes –½·100 + ½·0 = –50. Insgesamt entspricht Holmes erwartete Auszahlung also –½·25 – ½·50 = –37,5. Für Moriarty gilt Gleiches mit umgekehrtem Vorzeichen.
Viel schlimmer noch: Holmes wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent sterben. Denn der Ermittler wird ermordet, falls er und Moriarty beide am gleichen Ort aussteigen, was jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 der Fall ist. Damit ergibt sich eine Sterbewahrscheinlichkeit von 0,5·0,5 + 0,5·0,5 = 50 Prozent.
Aber tatsächlich hat Holmes statistisch gesehen bessere Chancen, wenn er einer anderen Wahrscheinlichkeitsverteilung folgt – sprich, wenn er eine gezinkte Münze nutzen würde, die unterschiedlich oft auf Kopf oder Zahl landet. Angenommen, Holmes entscheidet sich mit einer Wahrscheinlichkeit von p für Dover und Moriarty mit einer Wahrscheinlichkeit von q (entsprechend reisen die beiden Akteure jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 1−p beziehungsweise 1−q nach Canterbury). Falls Moriarty also bis nach Dover fährt, beträgt die erwartete Auszahlung von Holmes: –100·p + 0·(1–p) = –100p. Sollte Moriarty hingegen schon in Canterbury aussteigen, gilt für Holmes' erwartete Auszahlung: 50·p – 100·(1–p) = 150p – 100.
Im ersten Fall (falls Moriarty bis nach Dover fährt) sinkt die Auszahlung von Holmes also mit steigendem p; im zweiten wächst sie. Um sich auf die schlimmste Situation vorzubereiten, sollte Holmes daher jenes p wählen, für das die Auszahlungen gleich groß ausfallen – unabhängig von Moriartys Entscheidung. Dafür muss man beide Erwartungswerte gleichsetzen: 150p – 100 = 100p. Löst man die Gleichung nach p auf, erhält man den Wert 0,4. Das heißt, Holmes sollte mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent bis nach Dover durchfahren, aber mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit den Zug schon in Canterbury verlassen.
Für Moriarty ergibt sich übrigens dieselbe Überlegung, nur umgekehrt. Führt man die Berechnung analog durch, landet man bei q = 0,6; demnach sollte Moriarty mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit bis nach Dover fahren. Die Überlebenschance von Holmes beträgt in diesem Szenario daher insgesamt: (Wahrscheinlichkeit, dass Holmes in Dover ist)·(Wahrscheinlichkeit, dass Moriarty in Canterbury ist) + (Wahrscheinlichkeit, dass Holmes in Canterbury ist)·(Wahrscheinlichkeit, dass Moriarty in Dover ist) = 52 Prozent – und ist damit leicht höher, als wenn beide eine Münze geworfen hätten.
Auf diese Weise haben von Neumann und Morgenstern den Zwiespalt, in dem Holmes in der Geschichte steckt, zumindest aus mathematischer Sicht geknackt. Aber was passiert in der Kurzgeschichte?
Holmes und Moriarty haben natürlich weder eine gezinkte Münze noch einen Zufallsgenerator dabei. Dennoch folgen sie in der Geschichte den Gesetzmäßigkeiten der Spieltheorie: Holmes steigt in Canterbury aus und sieht dabei zu, wie Moriarty in einem einzelnen Waggon munter Richtung Dover fährt. Dass sich Doyle für diese Version entschieden hat, ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass der Autor damals noch nichts von Spieltheorie wissen konnte – denn es gab sie noch gar nicht. Er hatte wohl einfach einen guten Riecher; oder es ist Zufall, dass sein Ergebnis zu den mathematischen Vorhersagen passt. Mich motiviert es jedenfalls, bald mal einen genaueren Blick in die Werke von Sir Arthur Conan Doyle zu werfen.
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