Springers Einwürfe: Heilsame Panik
Überall in den Weiten des Tierreichs stößt die moderne Forschung auf komplexe Verhaltensformen und vermutet dahinter ein Innenleben, wie man es früher eigentlich nur uns Menschen zugetraut hätte. So konnte ich hier bereits von depressiven Taufliegen berichten und um die schonende Zubereitung schmerzempfindlicher Hummer bitten.
Nicht nur die uns evolutionär näherstehenden Verwandten wie Menschenaffen, Elefanten oder Delfine bilden gern stabile Gruppen, deren Mitglieder über einander Bescheid wissen und sich gegenseitig unterstützen. So etwas setzt Einfühlung in den Zustand des anderen voraus. Auch simplere Lebewesen tun sich zusammen. Tritt eine derartige Empathie schon bei ihnen auf?
Als Modellorganismus für genetische und ethologische Studien erfreut sich seit einigen Jahrzehnten der Zebrabärbling großer Beliebtheit. Das kleine Wirbeltier ist anspruchslos, leicht zu züchten und hat viele Gene mit Säugetieren wie unsereinem gemein. An ihm lassen sich nicht nur Feinheiten der embryonalen Entwicklung erforschen, sondern außerdem die evolutionären Wurzeln von sozialem Verhalten.
Den Nachweis für das mitfühlende Benehmen der Zebrabärblinge führten die Verhaltensbiologin Ibukun Akinrinade und ihr Kollege Kyriacos Kareklas vom Instituto Gulbenkian de Ciência in Oeiras, Portugal, zusammen mit Forschern aus Israel und Italien. Sie zeigten nicht nur, dass die Tierchen von der Furcht eines Artgenossen angesteckt werden, sondern überdies die wesentliche Rolle des Neurotransmitters Oxytozin in ihrem Gehirn. Das ist bemerkenswert, weil man Oxytozin von höheren Tieren als »Kuschelhormon« kennt, das einfühlsames oder ansteckendes Sozialverhalten fördert. Die Gegenwart dieses sozialen Wirkstoffs über weite Bereiche der Fauna hinweg scheint anzuzeigen, dass emotionale Ansteckung ein frühes Erfolgsprinzip der Artenentwicklung gewesen ist.
Skeptiker könnten freilich einwenden, es sei doch ein bisschen weit hergeholt, bei der Fluchtreaktion eines Schwarms kleiner Fische gleich Empathie, also Einfühlung, zu diagnostizieren. Geht es nicht auch ohne unterstellte Gefühle? Tatsächlich sondern verletzte Zebrabärblinge eine Substanz ab, die ihr Entdecker, der für seine Erforschung des Bienentanzes berühmte Verhaltensbiologe Karl von Frisch, in den 1930er Jahren als »Schreckstoff« bezeichnete. Wenn Artgenossen das Alarmsignal im Wasser aufspüren, verfallen sie in Panik: Sie irren umher und stellen sich anschließend tot.
Um diesen rein chemischen Außenreiz auszuschließen, platzierten die portugiesischen Forscher die Fische in separaten Aquarien oder spielten ihnen Fluchtreaktionen per Video vor. Zudem demonstrierten sie, dass die Furchtansteckung bei Mutanten, deren Oxytozin-Produktion genetisch lahmgelegt worden war, ausblieb, aber bei künstlicher Zugabe des Wirkstoffs wieder ansprang.
Für echte Empathie spricht obendrein, dass einzelne Fische nach Abklingen der akuten Panikphase auf die noch immer vor Furcht erstarrten Artgenossen zuschwammen und sie zu beruhigen schienen.
Vorderhand besteht dennoch kein Konsens darüber, ob man Fischen und Wirbellosen ein Innenleben zubilligen soll. Müssen sie als empfindungsfähig gelten, können sie Lust und Schmerz spüren? Und selbst wenn man unter ihnen so etwas wie emotionale Ansteckung beobachtet – heißt das, dass sie sich tatsächlich in ihresgleichen einzufühlen vermögen?
Jedenfalls scheinen Verhaltensbiologen für tierisches Gefühlsleben zunehmend offen zu sein. Das ist ein auffälliger Kontrast zur Debatte über künstliche Intelligenz: Da beeilen sich fast alle Diskussionsteilnehmer, sofort zu betonen, eine Maschine könne niemals Gefühle oder gar Empathie haben. Aber wer weiß, wie lange noch?
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