Warkus’ Welt: Wie viel Philosophie in Diktaturen steckt

Alle pluralistischen, liberalen Gesellschaften haben eine Sache gemeinsam: Sie verpassen sich keine offizielle Staatsphilosophie. Sicher gibt es Denker, die auf die eine oder andere Weise großen Einfluss etwa auf das geistige Klima der Bundesrepublik hatten und haben – Jürgen Habermas zum Beispiel –, aber es gibt kein Dokument namens »Die Doktrin des Bundesrepublikanismus«, in dem festgelegt ist, wie Deutsche gewissermaßen nach behördlicher Auffassung denken sollten.
Wenn wir im Gegensatz dazu auf den italienischen Faschismus als den modernen Prototyp aller rechtsautoritären Staaten schauen, finden wir sofort ein solches Dokument: »La dottrina del fascismo«. Diese »Lehre des Faschismus« wurde von dem stark von Georg Wilhelm Friedrich Hegel beeinflussten Philosophen Giovanni Gentile sowie – zumindest offiziell – niemand Geringerem als Diktator Mussolini höchstselbst verfasst, freilich erst rund zehn Jahre nach dessen Machtübernahme im Jahr 1922. Darin findet man Aussagen wie diese: »Für den Faschisten ist alles im Staat, und nichts Menschliches oder Geistiges existiert, oder hat gar Wert, außerhalb des Staates.«
In den Staaten des real existierenden Sozialismus gab es ebenfalls eine philosophisch untermauerte Staatsdoktrin in Form des Leninismus, später Marxismus-Leninismus. Diese war nicht im Nachhinein formuliert worden, sondern lange vor der Russischen Revolution 1917, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Über Karl Marx wurzelt auch sie im staatsphilosophischen Denken Hegels. Bereits unmittelbar nach dessen Tod 1831 hatten sich in seiner Nachfolge ein »linker« und ein »rechter« Flügel gebildet. Sehr vereinfacht ausgedrückt kann man die offizielle faschistische Staatsphilosophie als extremistische Enkelin des Rechtshegelianismus betrachten und die leninistische als ihre Cousine, eine extremistische Nachkommin des Linkshegelianismus.
An dieser Stelle drängt sich eine Frage auf: Wie steht es mit dem Nationalsozialismus? Gab es in diesem totalitären System, das sich unter anderem durch die inflationäre Verwendung von Wörtern wie »Gesinnung« und »Weltanschauung« hervortat, eine offizielle Philosophie? Und hier muss man, vielleicht überraschend, feststellen: nein. Das typische Kompetenzgerangel zwischen verschiedenen Staats- und Parteiorganen im NS-Staat erstreckte sich auch auf dieses Feld. Der »Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP«, Alfred Rosenberg (*1893, hingerichtet 1946), legte zwar 1930 mit »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« ein Buch vor, das sich selbst als Grundlagenschrift verstand, sein Einfluss wurde jedoch von höchster Stelle eingeschränkt.
Hitler und Rosenberg, zwei philosophische Autodidakten
Philosophisch war Rosenberg mehr oder minder Autodidakt wie Hitler selbst, mit dessen Pamphlet »Mein Kampf« er, zumindest was das rassistische Denken und den glühenden Antisemitismus anging, völlig übereinstimmte. Eine Hauptinspiration für beide war der englisch-deutsche rassistische Theoretiker Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), der sich wiederum stark auf den Franzosen Arthur de Gobineau (1816–1882) bezog. Sie können ebenfalls als weitgehend autodidaktische Dilettanten gelten.
Die »nationalsozialistische Weltanschauung« blieb immer verworren und voller Widersprüche. Zum Beispiel konnte sich nie eine einheitliche Linie zu der Frage durchsetzen, wie die Ideologie zur christlichen Religion steht. Im Gegensatz zum italienischen Faschismus, der den Staat geradezu metaphysisch erhöhte, waren die Nationalsozialisten auch keine Etatisten, stattdessen verherrlichten sie »das Volk«. Und trotz ihrer aufwändigen Kulturpolitik gaben sie sich von ihrem Selbstbild her eher als antiintellektuelle »Tatmenschen«, denen das »gefühlsmäßige Empfinden« und die »gläubige Hingabe« wichtiger waren als systematisches Überlegen. Was bekanntlich zahlreiche große Namen aus allen wissenschaftlichen und kulturellen Disziplinen nicht daran hinderte, begeisterte Nazis zu werden.
Philosophisch relevant sind bis heute besonders zwei fragwürdige Höhepunkte. Da ist zum einen Martin Heideggers berüchtigte Antrittsrede als Rektor der Universität Freiburg, gehalten am 27. Mai 1933. Darin versuchte der damals 43-Jährige, das neue diktatorische System in die abendländische Philosophietradition einzubetten und ihm so eine schicksalhafte, ja geradezu überzeitliche geistesgeschichtliche Bedeutung zu verleihen. Das andere Dokument ist der Aufsatz »Der Führer schützt das Recht« des führenden Juristen und Rechtsphilosophen Carl Schmitt (1888–1985), der die massenhafte Ermordung von NSDAP-internen Abweichlern 1934 als »höchstes Recht« darstellte und damit jegliche Gewaltenteilung oder sonstige staatliche Selbstbeschränkung ablehnte.
Der Vergleich zwischen italienischem Faschismus und Nationalsozialismus zeigt, dass autoritäre rechte Politiksysteme sehr unterschiedlich »geistig unterfüttert« sein können. Doch letztlich spielt bei ihnen die Geste, die Pose, die Inszenierung von Masse und die nackte Gewalt eine größere Rolle als jede Intellektualität. Vielleicht ist es gerade darum so gängig, dass Rechtsautoritäre und ihre Sympathisanten dem liberalen und pluralen Staat gerne unterstellen, eine offizielle – womöglich gar »totalitäre« – Staatsdoktrin zu haben, die die lauteren Interessen des »wahren Volkes« angeblich konsequent ignoriert.
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