Stabile Schichtung: Die Physik des Latte macchiato
Ob einem Latte macchiato nun schmeckt oder nicht – rein ästhetisch sind die unterschiedlich getönten Schichten der Kaffeespezialität auf jeden Fall beachtenswert. Diese Strukturbildung ist eine Folge verschiedener physikalischer Vorgänge, deren Zusammenwirken auch in ganz anderen Kontexten eine wichtige Rolle spielt, etwa beim Verhalten des Golfstroms.
Das Herstellungsprinzip von Latte macchiato ist einfach: In ein Glas mit 60 bis 70 Grad Celsius warmer Milch wird heißer Espresso gegeben. An den verschiedenen Stellen der Mischung ist das dortige Verhältnis der Flüssigkeiten gut anhand der Färbung zu erkennen: Im unteren, hellen Bereich dominiert die Milch, nach oben hin nimmt der Anteil von Espresso zu, wenn man von der oft vorhandenen Schaumkrone absieht, die hier außer Betracht bleiben soll.
»Ein Mathematiker ist eine Maschine, die Kaffee in Sätze verwandelt«
Alfréd Rényi, 1921–1970
Die Milch hat eine größere Dichte als der Espresso, dessen Dichte näherungsweise der von Wasser entspricht. Darum ist die geschichtete Anordnung recht stabil. Der Dichteunterschied zwischen den beiden Flüssigkeiten wird obendrein durch die höhere Temperatur des Espresso verstärkt – die Dichte nimmt normalerweise ab, wenn etwas heißer wird. Der leichtere Espresso vermengt sich überhaupt nur deshalb teilweise mit Milch, weil das Eingießen je nach Geschwindigkeit mehr oder weniger turbulente Bewegungen auslöst. Doch selbst bei einer sehr schwungvollen Vereinigung entsteht im hohen Glas keine homogene Mischung. Sobald sich die Aufregung gelegt hat, drängt der Espresso infolge von Auftriebskräften nach oben.
Am Boden ist die schwere Milch von den Turbulenzen weitgehend verschont geblieben und strahlt nach wie vor weiß. Darüber entstehen oft deutlich erkennbar weitere, voneinander klar abgegrenzte Schichten abweichenden Mischungsgrads und damit verschiedener mittlerer Dichte. Deren Ursache erschließt sich einem nicht sofort. Selbst eine Stunde nach Fertigstellung des Getränks, wenn es bereits an geschmacklicher Qualität eingebüßt und nahezu Raumtemperatur angenommen hat, sind die Lagen oft noch andeutungsweise zu erkennen. Umgekehrt gibt es keine solche Schichtung, wenn man die Flüssigkeiten bei Umgebungstemperatur vereinigt oder den Espresso sehr langsam zufügt.
Ausgleich auf Umwegen
Während des Eingießens dominieren die mechanische Verwirbelung und die trägheitsbedingte gegenseitige Durchdringung der Zutaten das Geschehen. Unter dem Einfluss der Gravitation treibt das Dichtegefälle in der zusammengesetzten Flüssigkeit Bewegungen an, die darauf hinauslaufen, die Differenzen zu beseitigen. Im vorliegenden Fall variiert die Dichte sowohl auf Grund der verschiedenen Zusammensetzung als auch wegen der unterschiedlichen Temperatur. Dadurch kommt es bei den gravitationsbedingten Ausgleichsbewegungen zu einem interessanten Wechselspiel. Fachleute sprechen von »doppelt-diffusiver Konvektion«.
Bei einer normalen Tasse heißen Kaffees entwickelt sich eine einfache Konvektionsbewegung: Der hauptsächlich an der Oberfläche und am Tassenrand abgekühlte Kaffee sinkt an den Seiten ab, zum Ausgleich steigt in der Mitte wärmerer auf.
Beim Latte macchiato hingegen liegen die Verhältnisse etwas komplizierter: Die Flüssigkeit gibt vor allem in der Nähe des Glasrands Energie durch Wärme an die Umgebung ab und wird ein wenig kühler. Dadurch nimmt ihre Dichte zu, und sie sinkt in kleinen Strähnen ab, was manchmal am Rand des Glases zu erkennen ist. Die niedergehende kühlere Flüssigkeit gerät so in Regionen immer höherer Milchkonzentration und damit zunehmender Dichte. Dadurch wird sie langsamer.
Wenn ihre Dichte dem Wert der Umgebung entspricht, endet der Sinkprozess, und die Flüssigkeit strömt auf einer Linie gleicher Dichte (Isodense) zur warmen Mitte des Glases. Dort treffen alle entsprechenden Ströme vom Rand her zusammen und steigen – inzwischen wieder etwas wärmer und damit leichter geworden – gemeinsam auf. Somit schließt sich ein Kreislauf. Die Konvektionsströmung wird durch den nach unten hin zunehmenden Milchanteil stabilisiert. Einen anschaulichen Eindruck von der Haltbarkeit der einzelnen Lagen kann man sich verschaffen, indem man das Kaffeeglas leicht bewegt. Die Schichten schwanken dabei ein wenig, doch kurz danach ist alles wieder, wie es war.
Wie viele Abschnitte sich unterhalb der obersten Konvektionszone nach demselben Schema ausbilden, hängt von mehreren Bedingungen ab, insbesondere dem Dichtegradienten. Dessen Verlauf wird weitgehend dadurch bestimmt, wie impulsiv der Espresso in die Milch eingegossen wird. Bei sehr wenig Schwung liegt am Ende fast reiner Espresso auf der weißen Milch, es gibt also nur eine Schicht. Mehrere davon entstehen erst oberhalb einer kritischen Injektionsgeschwindigkeit.
Die Umwälzungen wirken lange nach
Die Strukturbildung ist grundsätzlich vor allem der Tatsache zu verdanken, dass der thermische Ausgleich wesentlich schneller abläuft als der Diffusionsvorgang, der den Dichtegradienten der Mischung von Milch und Espresso abbaut. Der treibende Prozess der Schichtung ist die Dissipation – das heißt eine unumkehrbare Übertragung – von thermischer Energie über den Glasrand an die Umgebung. Man kann den Latte macchiato also mit Recht eine dissipative Struktur im Sinn der nichtlinearen Physik nennen. Sie bleibt so lange bestehen, wie die Temperaturdifferenz zwischen der Umgebung und dem Getränk aufrechterhalten wird. Obwohl dieses im Lauf der Zeit abkühlt, ist der Effekt dennoch lange zu bewundern, und erst allmählich ändern sich die Größe und die Anzahl der Schichten. Aber bevor es so weit kommt, hat man sich hoffentlich bereits am Latte macchiato selbst erfreut.
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