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Freistetters Formelwelt: Wenn aus Zahlen Popcorn wird

Manche Objekte in der Mathematik haben keine besondere Bedeutung – außer um vielleicht ein bestimmtes Konzept zu veranschaulichen. Das ist zum Beispiel bei der Popcorn-Funktion der Fall.
Eine pinkfarbene Popcorn-Schachtel mit weißen Punkten liegt auf einer lila Oberfläche. Popcorn ist aus der Schachtel herausgefallen und verteilt sich auf dem Untergrund.
Eine mathematische Funktion erinnert mit viel Fantasie an Popcorn – und wurde deshalb danach benannt.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Der deutsche Mathematiker Carl Johannes Thomae hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine kompliziert anmutende Funktion definiert:

f(x)={1q,x=pq0,sonst

Sie ist auf allen reellen Zahlen im Intervall [0, 1] definiert und p und q sind teilerfremde natürliche Zahlen.

Setzt man in die Funktion eine rationale Zahl ein, die durch den Bruch pq gegeben ist, dann erhält man den Kehrwert des Nenners. Falls x aber eine irrationale Zahl ist, dann beträgt der Wert der Funktion einfach null. Zeichnet man den Graph dieser Funktion auf, erhält man jede Menge Punkte, die direkt auf der x-Achse liegen – und zusätzlich eine Menge Punkte über den rationalen Zahlen, die sich in unterschiedlicher Höhe darüber einordnen. Mit etwas Fantasie kann man darin hüpfende Maiskörner sehen, wie sie bei der Zubereitung von Popcorn auftreten. Deshalb wird die Funktion auch als »Popcorn-Funktion« bezeichnet. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts war der Snack aus Maiskörnern allerdings eher unbekannt – und Thomae hatte mit seiner Funktion auch ein ganz anderes Anliegen.

Es ging ihm unter anderem darum, das mathematische Konzept der Stetigkeit zu illustrieren. Vereinfacht ausgedrückt ist eine stetige Funktion eine Funktion, die sich in einem Zug mit einem Bleistift zeichnen lässt, also ohne ihn abzusetzen. Oder, mathematisch etwas exakter: Ist die Änderung des Arguments der Funktion ausreichend klein, dann kann die Änderung des Funktionswerts ebenfalls beliebig klein gehalten werden. Wenn man dieses Konzept mit aller nötigen mathematischen Strenge definieren und beschreiben will, kann man auf die »Epsilontik« zurückgreifen. Diese Methode, mit der man Begriffe wie »beliebig klein« exakt beschreiben kann, war zur Zeit von Carl Johann Thomae noch vergleichsweise neu. Seine Funktion ist ein sehr schönes Beispiel, um das zu illustrieren.

Mal stetig, mal unstetig

Denn die Funktion ist auf den rationalen Zahlen unstetig, auf den irrationalen Zahlen dagegen stetig. Das lässt sich folgendermaßen erklären: Per Definition ist der Funktionswert bei jeder irrationalen Zahl gleich null. Wenn man jedoch eine andere Zahl einsetzt, die hinreichend nahe dieser irrationalen Zahl liegt, dann ist sie entweder irrational oder aber eine rationale Zahl mit einem sehr großen Nenner, deren Funktionswert damit ebenfalls ausreichend nahe bei null liegt. Auf jeden Fall jedoch ist sichergestellt, dass es keinen großen Sprung bei den Funktionswerten gibt: Auf den irrationalen Zahlen ist die Funktion also stetig.

Berechnet man den Funktionswert dagegen für eine rationale Zahl, ist das Ergebnis stets ungleich null – und egal, wie klein man die Umgebung dieser rationalen Zahl macht, sie wird stets eine irrationale Zahl enthalten, für die der Funktionswert auf null springt. Auf den rationalen Zahlen ist die Definition der Stetigkeit deshalb nicht erfüllt.

Das lässt sich alles natürlich auch beweisen. Die thomaesche Funktion ist ein wunderbares Instrument, um sich mit den Konzepten der Stetigkeit auseinanderzusetzen. Man kann sie außerdem nutzen, um den Unterschied zwischen abzählbaren Mengen wie den rationalen Zahlen und überabzählbaren wie den irrationalen Zahlen zu verdeutlichen. Die Menge der Unstetigkeitsstellen der Funktion entspricht den rationalen Zahlen und ist damit abzählbar. Für gewisse Anwendungen (zum Beispiel bei der Integration) spielen solche Mengen keine Rolle, man kann sie gewissermaßen vernachlässigen, weswegen sie auch »Nullmengen« genannt werden. Aber diese Konzepte müssen ebenfalls exakt definiert werden, und das lässt sich mit Hilfe der thomaeschen Funktion gut veranschaulichen.

In einem Buch über Mathematik habe ich einmal gelesen, dass die Funktion von Thomae keine praktische Bedeutung habe. Es mag sein, dass man sie nicht für irgendwelche konkreten mathematischen Beweise benötigt. Doch die Veranschaulichung komplexer Ideen ist definitiv auch von Bedeutung – und das leistet dieses Zahlen-Popcorn auf jeden Fall.

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