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Verschollenes Tauchboot »Titan«: Gesucht wird nur, wer im richtigen Boot sitzt

Die ganze Welt verfolgt die Suche nach fünf Geschäftsleuten in einem verschollenen Tauchboot. Dabei starben dieses Jahr bereits hunderte Menschen im Mittelmeer – nahezu unbemerkt. Ein Kommentar.
Das vermisste Tauchboot »Titan«
Im Fall des Tauchboots »Titan« wurden sorgenvoll die Stunden heruntergezählt, bis den Insassen möglicherweise der Sauerstoff ausgeht.

Update vom 22. Juni: Nach dem Fund von Trümmerteilen im Suchgebiet geht die US-Küstenwache inzwischen vom Tod aller Passagiere aus.

Beinahe besessen berichten Medien weltweit derzeit über die Suche nach dem verschollenen Tauchboot »Titan«, dessen fünf Insassen für je 250 000 US-Dollar dem berühmten Wrack der 1912 gesunkenen Titanic nahekommen wollten. Von einem »modernen Abenteuer« ist bei der Deutschen Presseagentur (dpa) die Rede, das zum »lebensbedrohlichen Albtraum« wurde. Von einem »Wettlauf gegen die Zeit« schreiben auch wir bei »Spektrum.de«. Die US-amerikanische Küstenwache ist bereits mit etlichen Kräften im Einsatz, die britische Regierung hat Hilfe bei der Suche angeboten, Frankreich ein Spezialschiff geschickt. Die dpa sendete innerhalb von 24 Stunden mehr als 20 Meldungen dazu, die ARD widmete dem Fall sogar einen Platz in den Tagesthemen.

Das Verschwinden des Tauchboots ist eine Tragödie für seine Insassen und ihre Angehörigen. Man kann nur hoffen, dass es gefunden wird, bevor den Menschen an Bord der Sauerstoff ausgeht. Warum aber schenken wir diesem Vermisstenfall so viel mehr Anteilnahme und Aufmerksamkeit als den hunderten Flüchtlingen, die in den vergangenen Tagen im Mittelmeer verunglückt sind? Warum berührt uns das Schicksal von fünf reichen Geschäftsleuten, die sich freiwillig auf ein waghalsiges Abenteuer eingelassen haben, so viel mehr als das von Tausenden Verzweifelten, die vor Krieg und Armut fliehen und sich nichts davon ausgesucht haben? Beim verschollenen Tauchboot schauen wir hin, beim gekenterten Rettungsboot lieber weg.

Eine Antwort lautet wohl: Das Schicksal der waghalsigen Millionäre erscheint uns näher als das der Kriegsflüchtlinge. Die eine Geschichte riecht nach Abenteuerlust, Neugier und Luxus, die andere nach Angst, Verzweiflung und Elend. Werden die Abenteurer gerettet, kehren sie heim in ihre Villen. Bei den Flüchtenden stellt sich hingegen die Frage, in welche Notunterkunft sie auf wessen Kosten gebracht werden. Oder ob sie nicht gleich zurückgeschickt werden sollten in ihre Heimatländer, die sie gerade erst unter nervenaufreibenden Strapazen verlassen haben. In dem einen Boot sieht man sich möglicherweise selbst sitzen (wenn man nur das Geld hätte), in dem anderen hofft man, niemals Platz nehmen zu müssen (für kein Geld der Welt).

Die eine Geschichte riecht nach Abenteuerlust, Neugier und Luxus, die andere nach Angst, Verzweiflung und Elend

Sollte unverschuldetes Leid nicht eigentlich einen stärkeren Hilfereflex auslösen als übersteigerte Abenteuerlust? Nicht unbedingt. Das zeigen zumindest aktuelle Studien aus der Sozialpsychologie. Überfordert uns die Anteilnahme am Schicksal anderer, blenden wir deren Pein oft kurzerhand aus und fühlen uns nicht mehr verantwortlich. Im Falle der Flüchtlinge könnte man fast schon von einem emotionalen Abstumpfungsprozess sprechen. Als der Flüchtlingszustrom im Jahr 2015 kurz vor dem Höhepunkt stand und Angela Merkel, damals noch Bundeskanzlerin, die Einreise nach Deutschland erleichterte, wurde sie für ihre Willkommenskultur gefeiert – bis die Stimmung plötzlich kippte und sich nahezu ins Gegenteil verkehrte. Die Bevölkerung fühlte sich überrannt, politische Parteien überfordert. Die Asylsuchenden wurden kriminalisiert und öffentlich Ressentiments gegen sie geschürt. Nun wird ohne Hemmungen darüber diskutiert, wie sich die europäischen Grenzen strenger überwachen lassen.

Im aktuellen Fall vor der griechischen Küste mit womöglich mehr als 500 ertrunkenen Geflüchteten sieht es ganz so aus, als hätte die griechische Küstenwache das heillos überladene Schiff zwar schon Stunden vor dem Untergang aus der Distanz inspiziert, den Menschen darin aber nicht geholfen. Und: Offenbar fühlte sich auch sonst niemand zuständig. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, auch Frontex genannt, die über fliegende Wärmekameras verfügt, soll schon einen Tag zuvor erfahren haben, in welch aussichtsloser Lage sich das Schiff befand. Gehandelt hat sie nicht.

Im Fall des Tauchboots »Titan« werden dagegen die Stunden sorgenvoll heruntergezählt, bis den Insassen möglicherweise der Sauerstoff ausgeht. Es wird gefragt, was genau passiert sein könnte – ob sich das Boot im Wrack der Titanic verheddert oder ein Stromausfall die Technik lahmgelegt hat. Es wird spekuliert, ob die Klopfgeräusche, die ein kanadisches Suchflugzeug kürzlich aufgenommen hat, Lebenszeichen der Besatzung sein könnten. Und es wird diskutiert, warum manche Menschen bewusst Nervenkitzel und Risiko suchen.

Die Flüchtenden wollten keinen Nervenkitzel. Das Risiko, in ein überfülltes Schiff zu steigen, haben sie nur in Kauf genommen, weil Bleiben die unsicherere Alternative gewesen wäre. Die Menschlichkeit gebietet es, auch dort wieder hinzusehen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen – mit der gleichen sorgenvollen Dringlichkeit wie bei der »Titan«.

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